Dossier #11: "ERINNERUNGSKULTUR UND GEDÄCHTNISPOLITIK"
Dossier #11: "ERINNERUNGSKULTUR UND GEDÄCHTNISPOLITIK"
Dossier #11: "ERINNERUNGSKULTUR UND GEDÄCHTNISPOLITIK"
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
6. Waagschalen-Mentalität.<br />
Kontroverse Positionen zum Gedenkstättenstreit in Sachsen und zu einem vorläufig zurückgezogenen<br />
Antrag der CDU/CSU im Bundestag<br />
von Dr. Martin Jander<br />
Der Streit um die Relativierung 27 nationalsozialistischer Verbrechen ist nicht neu. Er begleitet die Auseinandersetzung um die<br />
Aufarbeitung und öffentliche Präsentation des DDR-Unrechts von Anbeginn an und hat bereits lange vorher (z.B. im so genannten<br />
"Historikerstreit" 28 ) eine wichtige Rolle für die Erinnerungskultur in der - damals noch alten - Bundesrepublik gespielt. Mit dem bereits<br />
vor drei Jahren eingeleiteten Rückzug des "Zentralrats der Juden in Deutschland" aus der "Stiftung Sächsische Gedenkstätten" hat sich<br />
der Streit jetzt an einem (teilweise) neuen Gegenstand entzündet. Die Aufkündigung der Mitarbeit in den Gremien der Stiftung setzt<br />
nicht nur die Landesregierung Sachsens unter Legitimationsdruck. Wie die vorläufige Rücknahme eines Gesetzantrages der<br />
CDU/CSU-Bundestagsfraktion ("Gesamtkonzept für ein würdiges Gedenken aller Opfer der beiden deutschen Diktaturen") zeigt, hat<br />
er auch Auswirkungen auf die Erinnerungskultur in der - nunmehr neuen - Bundesrepublik insgesamt. Im Mittelpunkt des Streits steht<br />
die Frage: In welcher Art und Weise soll in der Bundesrepublik an den Nationalsozialismus und an die DDR erinnert werden? Die am<br />
Streit Beteiligten geben darauf ganz verschiedene Antworten. Darüber hinaus wird auch um die Organisationsform der<br />
Gedenkstättenpolitik gestritten. Vorstellungen einer eher zentralisierten - deutlich vom Staat dominierten - Erinnerungspolitik stehen<br />
dabei Ideen einer eher dezentralen - vom Eigenengagement der Bürger getragenen - Arbeitsweise gegenüber.<br />
CDU und CSU eskalieren die Auseinandersetzung um Erinnerung und Gedenken in der Bundesrepublik<br />
Am 17. Juni 2004 stellte die CDU/CSU im Bundestag einen Gesetzesantrag 29 vor, der die Gedenkstättenlandschaft<br />
der Bundesrepublik vollkommen verändern soll. Die konservativen Parteien des vereinigten Deutschlands wollen die<br />
Finanzierung und Präsentation des Gedenkens unter dem Gesichtspunkt einer banalisierten Totalitarismustheorie<br />
neu ordnen. Sie haben damit eine Polarisierung und einen Proteststurm ausgelöst, die weit über die Grenzen der<br />
Bundesrepublik hinausreichen. Sozialdemokraten, Grüne und Kommunisten sprachen sich geschlossen gegen den<br />
Antrag aus. Das Simon Wiesenthal Center aus Jerusalem hatte die CDU im Vorfeld aufgefordert, den Antrag zurück<br />
zu ziehen. Der Initiator des Antrags dagegen, Ex-DDR-Bürgerrechtler Günther Nooke, äußerte, er halte auch<br />
weiterhin eine intensive Debatte über die Erinnerungskultur in Deutschland für nötig. 30 Auf jeden Fall ist zu erwarten,<br />
dass die Auseinandersetzung um Erinnerung und Aufarbeitung des Nationalsozialismus und ihr Verhältnis<br />
zu Erinnerung und Aufarbeitung des DDR-Unrechts in Deutschland die politischen Debatten bis zur Bundestagswahl<br />
2006 begleiten wird.<br />
Begonnen hat der Streit bereits am 21. Januar 2004. Damals beendete der Zentralrat der Juden - nach einem<br />
dreijährigen Streit - seine Mitarbeit in den Gremien der "Stiftung Sächsische Gedenkstätten" und griff die<br />
CDU/CSU, die zu diesem Zeitpunkt bereits an dem nun endgültig in den Bundestag eingebrachten Gesetzentwurf<br />
arbeitete, scharf an. Eine "Waagschalenmentalität" verbreite sich in der Bundesrepublik, argumentierte der Vizevorsitzende<br />
des Zentralrats der Juden in Deutschland Salomon Korn, der Einhalt geboten werden müsse.<br />
Im Mittelpunkt des Streits steht die Frage: In welcher Art und Weise soll in der Bundesrepublik an den<br />
Nationalsozialismus und an die DDR erinnert werden? Was eigentlich bedeutet "Relativierung" des Nationalsozialismus?<br />
Die am Streit Beteiligten geben darauf ganz verschiedene Antworten. Darüber hinaus wird auch um die<br />
Organisationsform der Gedenkstättenpolitik gestritten. Vorstellungen einer eher zentralisierten - deutlich vom Staat<br />
dominierten - Erinnerungspolitik stehen dabei Ideen einer eher dezentralen - vom Eigenengagement der Bürger<br />
getragenen - Arbeitsweise gegenüber. Der folgende Bericht referiert wesentliche Ereignisse des unabgeschlossenen<br />
Streits und zitiert zentrale Passagen entscheidender Dokumente. 31<br />
Waagschalen-Mentalität<br />
Am 21. Januar 2004 hat der "Zentralrat der Juden in Deutschland" seine Mitarbeit in den Gremien der "Stiftung<br />
Sächsische Gedenkstätten" beendet. In der Pressemitteilung des Zentralrats heißt es:<br />
27 [Der Begriff "Relativierung" bedeutet, dass jemand durch Gleichsetzung verharmlost. Wer z.B. den Nationalsozialismus mit der DDR gleichsetzt, verharmlost den<br />
Nationalsozialismus. Man könnte auch sagen, er "relativiert" ihn. Der bessere Begriff ist "Analogisierung". Er sagt direkt worum es geht: Gleichsetzung. Relativieren<br />
heißt eigentlich "in Beziehung setzen" oder "vergleichen". Die deutsche Sprache hat hier ein Problem. Man sagt: "Das kann man nicht vergleichen!" Damit ist jedoch<br />
gemeint, dass man etwas nicht gleichsetzen kann.]<br />
28 Mit "Historikerstreit" bezeichnet man eine intensive Auseinandersetzung in der alten Bundesrepublik der 80er Jahre, die von einem Streit<br />
zwischen Ernst Nolte und Jürgen Habermas ausgelöst wurde. Der Hauptstreitpunkt dieser Kontroverse, an der sich die führenden Intellektuellen<br />
des Landes über mehrere Monate hin beteiligten, drehte sich um die Frage, ob die nationalsozialistischen Verbrechen tatsächlich einzigartig<br />
("singulär") sind, oder mit den stalinistischen Massenverbrechen gleich zu setzten sind.<br />
29 ["Gesamtkonzept für ein würdiges Gedenken aller Opfer der beiden deutschen Diktaturen", Bundestagsdrucksache 15/3048,<br />
Bundestagsdrucksachen im Internet: <br />
30 [Günther Nooke in "Die Welt" vom 16. Juni 2004: <br />
31 [Siehe auch der Artikel "Aufarbeitung des DDR-Unrechts in der Kritik" von Martin Jander, in der Jungle World Nr. 8 vom 11. Februar 2004<br />
<br />
D-A-S-H <strong>Dossier</strong> <strong>#11</strong> – Erinnerungskultur und Gedächtnispolitik 17