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Dossier #11: "ERINNERUNGSKULTUR UND GEDÄCHTNISPOLITIK"

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die elektronischen Medien immer bedeutender für das kollektive Gedächtnis wurden. Sie wurden Träger von<br />

Diskursen und Archiv zur selben Zeit.<br />

Einen ersten Boom der Erinnerung an die Shoah gab es jedoch erst 1979. Nach langwierigem Zögern und heftigen<br />

Widerständen strahlten die westdeutschen dritten Programme den amerikanischen TV-Mehrteiler "Holocaust" aus.<br />

Im Ersten durfte er nicht gezeigt werden, weil Bayern und Baden-Württemberg für diesen Fall mit einer Abschaltung<br />

ihrer Sender gedroht hatten. Trotz alledem erreichte der Film eine sensationelle Zuschauerzahl von 10 bis 13<br />

Millionen, das ist eine Einschaltquote von 30-40%. Damit wurde der Film zu einem der wichtigsten Medienereignisse<br />

der BRD 48 - in der Öffentlichkeit wurde breit und ausführlich über ihn diskutiert. In Umfragen fühlten<br />

sich nach dem Film 80% der Zuschauerinnen und Zuschauer zu Diskussionen angeregt und 50% meinten, neue<br />

Informationen erhalten zu haben. "Holocaust" erzählt die Geschichte zweier deutscher Familien. Die eine beteiligt<br />

sich am nationalsozialistischen Projekt, die andere wird verfolgt, deportiert, ermordet, weil sie jüdisch ist. Nur ein<br />

Mitglied überlebt die Shoah. Die Tatsache, dass dieser Film im Allgemeinen als "Augenöffner" gilt, als Film, der<br />

unzähligen Deutschen "neue Informationen" gebracht habe, spricht Bände über das Verdrängen und Verschweigen<br />

in all den Jahren zuvor. 49<br />

Jedenfalls wurde sich in den Medien der BRD der achtziger Jahre immer mehr mit der eigenen Vergangenheit<br />

auseinandergesetzt. Als Beispiel sei hier der "Historikerstreit" genannt, den Ernst Nolte 1986 in der Frankfurter<br />

Allgemeinen Zeitung vom Zaun bricht. 50<br />

Weitere Brüche in der deutschen Erinnerungskultur gab es durch die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht", die<br />

seit Ende der neunziger Jahre durch deutsche und österreichische Städte tourte, und durch Daniel J. Goldhagens<br />

Buch "Hitlers willige Helfer". Jetzt wurde auch das jahrzehntelang gepflegte Bild von der "sauberen Wehrmacht"<br />

und damit hunderttausender deutscher Täter, die sich keiner Menschheitsverbrechen schuldig gemacht hätten,<br />

erschüttert. Und der Mythos, dass die meisten Gräuel eigentlich nur der SS zuzurechnen waren, nahm ebenfalls<br />

ernsthaften Schaden. In diese Reihe der ausführlich in den Massenmedien geführten Auseinandersetzungen gehört<br />

auch die regional gezeigte Ausstellung "Deutsche verwerten ihre Nachbarn", die dokumentiert, wie die "ganz<br />

normalen Leute" das Hab und Gut ihrer deportierten jüdischen Nachbarn günstig ersteigerten. 51<br />

Der Diskurs um die Vergangenheit ist zwar heute noch weit davon entfernt, sich ehrlich und kritisch mit der<br />

deutschen Vergangenheit auseinander zu setzen, zumindest ist aber eine gewisse Pluralisierung und ein Ende des<br />

Verschweigens und Verdrängens zu erkennen. Gerade im Bereich der Medien Film und Fernsehen gerät der<br />

deutsche Erinnerungsdiskurs dabei immer stärker unter den Einfluss universeller Tendenzen. Der Film "Schindlers<br />

Liste" beispielsweise ist ein Projekt Steven Spielbergs, das seine Ursprünge viel mehr im amerikanischen Holocaust-<br />

Diskurs hat. Trotzdem ist er wichtig für die deutsche Erinnerungskultur gewesen. Auch spielt die Shoah außerhalb<br />

Deutschlands eine ganz andere Rolle als im Land der Täter. Sie wandelt sich zu einem universellen Symbol des<br />

Bösen, das sich ganz allgemein, nicht nur in Deutschland, "nicht wiederholen dürfe". Diese Tendenz schlägt nun<br />

wieder auf den deutschen Diskurs zurück, wo nicht wenige darauf warten, den Holocaust in einer langen Reihe von<br />

Menschheitsverbrechen gleichberechtigt ein- oder gar unterzuordnen.<br />

Und genau dieser Entwicklung sehen wir uns aktuell gegenüber. In den letzten Jahren gab es einen Schub an<br />

Fernsehreportagen und Bestseller-Romanen, die sich ein einziges Thema gesetzt haben: Die Deutschen als Opfer. Es<br />

geht um ihr Leiden, um ihr Bestehen in harten Zeiten und moralisch komplizierten Situationen. Günther Grass stellt<br />

in seinem Buch "Im Krebsgang" den Mythos um den Untergang des deutschen Flüchtlingsschiffes "Gustloff" ins<br />

Zentrum; Jörg Friedrich betreibt in seinem pathetischen Werk "Der Brand" eine heimtückische semantische<br />

Enteignung, indem der von den "Krematorien" und "Gaskammern" der deutschen Luftschutzkeller schreibt;<br />

48 Brandt, Susanne: Holocaust - redaktionell bearbeitet. Wie die Erstausstrahlung der Holocaust-Serie 1979 das deutsche Nachkriegserinnern<br />

beeinflusste. Über den Zusammenhang von Fernsehen und kollektivem Gedächtnis. In: Zeitschrift für KulturAustausch, 49.1999, H.4, S. 89-91.<br />

49 Zeitgeschichte-online, Thema: Die Fernsehserie "Holocaust" - Rückblicke auf eine "betroffene Nation". Beiträge und Materialien, März 2004,<br />

<br />

50 Mit "Historikerstreit" bezeichnet man eine intensive Auseinandersetzung in der alten Bundesrepublik der 80er Jahre, die von einem Streit<br />

zwischen Ernst Nolte und Jürgen Habermas ausgelöst wurde. Der Hauptstreitpunkt dieser Kontroverse, an der sich die führenden Intellektuellen<br />

des Landes über mehrere Monate hin beteiligten, drehte sich um die Frage, ob die nationalsozialistischen Verbrechen tatsächlich einzigartig<br />

("singulär") sind, oder mit den stalinistischen Massenverbrechen gleich zu setzen sind.<br />

51 Literatur: Betrifft: "Aktion 3". Deutsche verwerten jüdische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung. Ausgewählt und kommentiert von Wolfgang<br />

Dreßen. Aufbau-Verlag, Berlin 1998. Dazu auch ein Artikel in der Jungle World 7/99:<br />

und die Rezension im Newsletter zur Geschichte und Wirkung des<br />

Holocaust, Nr. 23/ 2002 . Eine weitere Ausstellung zum Thema wurde vom<br />

Fritz-Bauer-Institut erarbeitet: Legalisierter Raub. Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden in Hessen 1933-1945<br />

<br />

D-A-S-H <strong>Dossier</strong> <strong>#11</strong> – Erinnerungskultur und Gedächtnispolitik 32

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