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Dossier #11: "ERINNERUNGSKULTUR UND GEDÄCHTNISPOLITIK"

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gesetzt. Dies ist einerseits selbstverständlich notwendig, andererseits entlastet es aber auch von der Schuldfrage. Die<br />

Schuld, die die Deutschen allgemein und individuell an den Verbrechen während des Nationalsozialismus tragen,<br />

nimmt meist einen zu geringen Raum ein. Von dieser wird beispielsweise abgelenkt mit Formulierungen wie 'Hitler<br />

kam über Deutschland' oder 'die Taten einiger weniger' usw. Damit, wie auf allen Ebenen und in allen Bereichen das<br />

nationalsozialistische System mit getragen und weiter entwickelt wurde, befassen sich die öffentlichen Reden oder<br />

Debattenbeiträge nur selten. Genau dies versuchte Philipp Jenninger 1988 bei seiner Rede anlässlich des 50. Jahrestages<br />

der Novemberpogrome im Bundestag. Er erinnerte nicht bzw. nicht vordergründig an die Jüdinnen und Juden,<br />

die von der Gewalt der Pogrome (beschönigend oft "Reichskristallnacht" genannt) betroffen waren und die<br />

Konsequenzen, die diese öffentliche Machtbekundung, getragen durch die deutsche Bevölkerung, für jüdische<br />

Menschen mit sich brachte. Vielmehr sprach der Bundestagspräsident von den Deutschen und deren Beteiligung<br />

oder Billigung der antisemitischen Hetze. Er nannte nicht nur die faschistischen Eliten als Täter, sondern sagte:<br />

"Viele ermöglichten durch ihre Gleichgültigkeit die Verbrechen. Viele wurden selbst zu Verbrechern." Er<br />

thematisierte weiterhin den Vernichtungsantisemitismus und die lange Tradition des Antisemitismus in der<br />

deutschen Geschichte. Diese Aussagen, die Einnahme der Täterperspektive, waren eine neue Schwerpunktsetzung.<br />

Da Jenninger die rhetorischen Mittel der erlebten Rede und Zeitzeugenaussagen benutzte, diese Passagen während<br />

des Vortrags allerdings nicht kennzeichnete, wurde ihm mangelnde Distanzierung vom Nationalsozialismus vorgeworfen.<br />

Einige Abgeordnete verließen während des Vortrags den Saal, Jenninger geriet unter massive öffentliche<br />

(mediale) Kritik und trat zurück. Einige Inhalte der Rede sind durchaus zu kritisieren, z.B. die Überbetonung der<br />

'Erfolge' Hitlers, der theologische Bezug und die Ausführungen über die Zeit nach 1945, aber gerade die Einnahme<br />

der Täterperspektive und das Anliegen, die Schuldigen und nicht nur die Opfer zu benennen, gehören nicht dazu. 13<br />

Nur ein Jahr später, 1989, begann sich die deutsche Gesellschaft so umfassend zu ändern, dass die Betrachtung<br />

deutscher Geschichte im Inland und im Ausland unter ganz neuen Vorzeichen stand.<br />

Nach 1989/90, also nach dem Umbruch in der DDR und der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten,<br />

wurde Vergangenheit wieder vermehrt zum Thema. Im 'neuen' Deutschland entwickelte sich ein Nationalgefühl, wie<br />

es vorher in den getrennten deutschen Staaten nicht gekannt wurde. Diese offensichtliche und öffentliche positive<br />

Bezugnahme auf Deutschland und deutsche Symbole (z.B. die Nationalfarben) hatten auch Auswirkungen auf die<br />

Betrachtung deutscher Geschichte. Zusätzlich musste Deutsche Politik nach außen zeigen, dass die Warnungen vor<br />

einem neuen Großdeutschland, die zum Teil im Ausland geäußert wurden, unberechtigt sind. Erinnerungspolitik<br />

sollte nicht notwendig einen Schlussstrich ziehen, aber die Diskussion in und um Deutschland doch eingrenzen.<br />

Deutschland musste sich geläutert präsentieren und dabei doch Möglichkeiten finden sich auf die eigene Geschichte<br />

auch positiv beziehen zu können. Nach den Brandanschlägen auf Unterkünfte von Asylsuchenden und den<br />

rassistischen Angriffen Anfang der 90er Jahre war man bemüht, keine Bezüge zur deutschen Geschichte herzustellen<br />

und den Taten ihre politische Motiviertheit abzusprechen. Statt offenen Rassismus als solchen zu benennen und<br />

gegen ihn vorzugehen, wurden die Angriffe auf Probleme seit der Wiedervereinigung und durch die Sozialisation in<br />

der DDR zurückgeführt.<br />

Die Rede des Schriftstellers Martin Walser am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche zur Verleihung des<br />

Friedenspreises des deutschen Buchhandels stellt eine Zäsur des offiziellen Erinnerns dar, weil das erste Mal seit<br />

Anfang der 80er Jahre die Schuldanerkennung verweigert wurde. Walser hielt die Freiheit des Gewissens gegen die<br />

Macht der "Moralkeule" Auschwitz. Er sprach von der "Instrumentalisierung unserer (gemeint ist die deutsche, K.H.)<br />

Schande". Damit gab er, wenn auch intellektueller formuliert, die Stimmung in der deutschen Bevölkerung wieder.<br />

Mit Sätzen wie: "Die, die mit solchen Sätzen (gemeint waren Warnungen vor dem deutschen Volkscharakter und negative<br />

Einschätzungen der Deutschen, K.H.) auftreten, wollen uns wehtun, weil sie finden, wir haben das verdient.<br />

Wahrscheinlich wollen sie auch sich selber verletzen. Aber uns auch. Alle. Eine Einschränkung: alle Deutschen."<br />

Sagte Walser das, was im Privaten viele denken: Warum müssen wir uns immer schuldig fühlen? Auch dass Ignatz<br />

Bubis als damaliger Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland in der folgenden Debatte in die<br />

Schranken verwiesen wurde, wurde z.B. in Leserbriefen positiv aufgenommen. 14<br />

Besonders markant für die Geschichtspolitik und Erinnerungskultur ab den 90er Jahren sind die Betonung der<br />

Leiden der Deutschen (Bombardierungserfahrungen, Flucht und Vertreibung) und die Wiederkehr der<br />

Totalitarismusthese, d.h. es wird von den 'beiden deutschen Diktaturen' gesprochen und Nationalsozialismus mit<br />

dem Staatssozialismus der DDR verglichen. Gerade die Einweihung der Neuen Wache 1993, zeigt dieses<br />

13 gibt es die Rede auch als Audiodatei. Eine<br />

Analyse, warum gerade die Jenninger Rede zu einem Skandal wurde findet sich hier <br />

14 Eine gute Analyse der so genannten Walser-Bubis-Debatte inklusive ausführlicher Literaturliste:<br />

; die komplette Rede findet sich unter:<br />

. Ein Interview mit Ignatz Bubis aus der Zeitung "Die Welt" vom 14. Oktober 1998 zur Kritik an<br />

Walsers Rede und "Ignatz Bubis antwortet Martin Walser" Auszüge aus der Rede zum 60. Jahrestag<br />

der Reichspogromnacht 1998 <br />

D-A-S-H <strong>Dossier</strong> <strong>#11</strong> – Erinnerungskultur und Gedächtnispolitik 7

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