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Dossier #11: "ERINNERUNGSKULTUR UND GEDÄCHTNISPOLITIK"

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Die so genannten 68er 10 erhoben Anklage gegen dieses Verdrängen. Besonders auf die Verstrickungen in den<br />

eigenen Familien wurde das Augenmerk gerichtet und der Vorwurf des Schweigens an die Väter geäußert. Sie<br />

forderten eine individuelle Auseinandersetzung mit den eigenen Taten, klagten dabei aber nicht die Gesellschaft als<br />

Ganze an. Neben der Auseinandersetzung mit eigener (Familien-) Geschichte setzte ihre Kritik vorrangig an den<br />

Kontinuitäten bei den Eliten an, wie bei Richtern und Professoren, denen eine Hauptschuld am Nationalsozialismus<br />

gegeben wurde. Im Zuge der Politisierung des Alltags und den Forderungen nach Auseinandersetzung mit deutscher<br />

Geschichte gründeten sich gegen Ende der 70er Jahre in vielen Orten Geschichtswerkstätten und Vereine, die sich<br />

mit der Lokalgeschichte im NS beschäftigten. Dabei ging es in vielen Projekten um die Orte, an denen beispielsweise<br />

KZ-Außenlager oder Unterkünfte von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter befanden. Die Arbeit dieser<br />

Vereine wurde zumeist von öffentlichen Geldern unterstützt und als Teil der demokratischen Auseinandersetzung<br />

mit dem Nationalsozialismus angesehen.<br />

Im öffentlichen Diskurs war man jahrelang bemüht zu betonen, dass die Wandlung vom Nazi zum westlichen<br />

Demokraten gelungen sei. Ab den 80er Jahren wurde es dann notwendig auch ein erstarktes Deutschland vermitteln<br />

zu können. Bei offiziellen Anlässen wurden die Shoah und der Zweite Weltkrieg zum Thema. Wichtige Einschnitte<br />

sind beispielsweise der 8. Mai 1985, die Jenninger Rede 1988 und vor allem der so genannte Historikerstreit 1986.<br />

Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker sprach anlässlich des 40. Jahrestages des 8. Mai, dem Tag der<br />

Befreiung, 1985 im Bundestag. 11 In der Rede nannte er den Tag auch 'Tag der Erinnerung': "8. Mai ist für uns vor<br />

allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mussten." In der sehr emotionalen Rede überwog die<br />

Auseinandersetzung mit den individuellen Entscheidungen und Ängsten der Deutschen während des Nationalsozialismus.<br />

Weizsäcker betonte die Schrecken und Leiden aller und egalisierte damit die Unterschiede zwischen<br />

Opfern und Täterinnen bzw. Tätern. Andererseits sprach er ganz klar vom "Tag der Befreiung" und auch von der<br />

individuellen Schuld der Deutschen und hinterfragte die Aussage, von nichts gewusst zu haben. "Wer seine Ohren<br />

und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten. (…)<br />

Es gab viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen. Als<br />

dann am Ende des Krieges die ganze unsagbare Wahrheit des Holocaust herauskam, beriefen sich allzu viele von uns<br />

darauf, nichts gewusst oder auch nur geahnt zu haben." Für diese Einschätzung und die Anerkennung individueller<br />

Schuld wurde der Bundespräsident damals besonders von konservativer Seite öffentlich kritisiert. Nicht verwunderlich,<br />

Weizsäckers Rede stand den Trends der Auseinandersetzung eigentlich entgegen. Denn die Erinnerungsdiskurse<br />

entwickelten sich Mitte der 80er eher in Richtung Betonung der Leidenserfahrungen und weg von der<br />

Auseinandersetzung mit Schuld. Im Vorfeld der Feierlichkeiten zu diesem Jahrestag legte beispielsweise Helmut<br />

Kohl gemeinsam mit dem damaligen Präsidenten der USA Ronald Reagan Kränze an der KZ-Gedenkstätte Bergen-<br />

Belsen und auf dem Soldatenfriedhof Bitburg nieder. Dies stieß in der Öffentlichkeit auf Kritik, weil in Bitburg auch<br />

Angehörige der Waffen-SS beerdigt sind.<br />

Es ist nicht verwunderlich, dass gerade in dieser Zeit der so genannte Historikerstreit entbrannte, der weit über die<br />

Geschichtswissenschaft hinaus beachtet wurde. Die öffentliche Debatte wurde eröffnet von Ernst Nolte am 6. Juni<br />

1986 in der FAZ mit der Klage über die "Vergangenheit, die nicht vergehen will. (…) Die wie ein Richtschwert über<br />

der Gegenwart aufgehängt ist." Er sprach sich für eine Normalisierung der Betrachtung des NS aus. Seine zentralen<br />

Bestrebungen waren die Relativierung der Shoah durch ihre Einordnung in die Geschichte des Stalinismus<br />

("asiatische Tat") und die Popularisierung eines Schlussstrichs. Er war der erste, der diese Position aus der Mitte der<br />

Gesellschaft lautstark äußerte. Die Gegenposition im Historikerstreit, vertreten vor allem von Jürgen Habermas,<br />

betonte die Einzigartigkeit des NS und versuchte zwischen Vergleichen und Gleichsetzen zu differenzieren. Für sie<br />

bedeutete Historisierung nicht "Tabubruch" und "Sprengen der Fesseln der Geschichtsschreibung", sondern<br />

wissenschaftliche Durcharbeitung und seriöse Aufklärung. Der Nationalsozialismus solle als historisch abgeschlossen<br />

mit den geschichtswissenschaftlichen Analysemethoden aufgearbeitet werden.<br />

Zusammengefasst standen sich diese beiden Positionen gegenüber: Einerseits stand die Richtung von Nolte für das<br />

Zurückweisen der Schuld, Relativierung der Schuld durch Verweis auf Verbrechen anderer, Angriff auf die etablierte<br />

Gedenkpolitik, und, dass man sich insgesamt nicht für die eigene Nationalgeschichte schämen müsse.<br />

Andererseits wollte die Seite von Habermas das deutsche Erbe antreten durch kritische Aneignung der Geschichte,<br />

d.h. Betonen der Zäsur von 1945, die das Schlechte vom jetzigen Guten trenne. Durchgesetzt haben sich in der<br />

Geschichtswissenschaft und in der offiziellen Erinnerungspolitik Teile beider Positionen. Der Verweis auf Verbrechen<br />

anderer Nationen, insbesondere der Vergleich des Nationalsozialismus mit dem Stalinismus, hat in viele<br />

Bereiche der Auseinandersetzung mit Gedenken Einzug gefunden. Andererseits konnte sich der so genannte<br />

Schlussstrich unter die Vergangenheit nicht durchsetzen. 12<br />

Kennzeichnend für das Gros der Beschäftigungen mit dem deutschen Faschismus ist die Einnahme der Opferperspektive;<br />

d.h. also, zentral wird sich mit den Opfern, insbesondere mit den Jüdinnen und Juden, auseinander-<br />

10 Als 68er bezeichnet man die Generation, die sich ab Mitte der 60er Jahre rund um die Studierendenproteste politisiert hat.<br />

11 <br />

12 Eine Zusammenfassung des Historikerstreits von shoa.de gibt es hier <br />

D-A-S-H <strong>Dossier</strong> <strong>#11</strong> – Erinnerungskultur und Gedächtnispolitik 6

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