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"Es sei denn, dass wir dieses Wissen zeitgleich mit der Geburt empfangen (λαμβάνομεν ταύτας τὰς<br />
ἐπιστήμας), Sokrates, diese Zeit ist ja noch übrig."<br />
[76d] "Gut, mein Freund; aber zu welcher anderen Zeit verlieren wir es dann (ἀπόλλυμεν)? Denn wir haben<br />
es bei unserer Geburt ja nicht zur Verfügung (ἔχοντες), wie wir eben übereinstimmten. Verlieren wir es<br />
(ἀπόλλυμεν) genau im selben Moment, in dem wir es empfangen (λαμβάνομεν)? Oder kannst du einen<br />
anderen Zeitpunkt nennen?"<br />
"Keinesfalls, Sokrates – ich habe Unsinn geredet, ohne es zu merken."<br />
"Nicht wahr, die Sache steht für uns so, Simmias", sagte Sokrates. "Wenn das existiert, wovon wir wieder<br />
und wieder sprachen, das Gute und das Schöne und jedes derartige wahre Sein der Dinge (πᾶσα ἡ<br />
τοιαύτη οὐσία), und wenn wir darauf (ἐπὶ ταύτην) alles beziehen, was wir mit den Sinnen wahrnehmen,<br />
[76e] indem wir finden, dass es vorher schon da war und uns eigen ist, und wenn wir das (ταῦτα – diese<br />
Beziehung?) damit (ἐκείνῃ – mit der Seele?) vergleichen, ist es dann nicht notwendigerweise der Fall, dass<br />
so wie das (ταῦτα) existiert, auch unsere Seele schon existiert hat, bevor wir geboren werden? Und wenn<br />
es nicht existiert, dass dann diese Argumentation umsonst ist? Ist es so, und besteht dieselbe<br />
Notwendigkeit dafür, dass das (ταῦτα) existiert und dann auch unsere Seelen vor der Geburt existieren,<br />
wie dafür, dass, wenn das (ταῦτα) nicht existiert, auch dies hier (τάδε – die vorliegende Hypothese, dass<br />
die Seele vor der Geburt existiert?) nicht sein muss?"<br />
"Die Notwendigkeit dazu", sagte Simmias, "scheint mir übermächtig zu sein, und unsere Argumentation<br />
rettet sich zu dem schönen Schluss, [77a] dass sowohl unsere Seelen vor der Geburt schon existiert haben<br />
als auch, dass das wahre Sein existiert, von dem du gerade gesprochen hast. Ich habe ja nichts, was mir so<br />
klar ist wie dies: dass alle diese derartigen Dinge so sicher existieren, wie es nur möglich ist, das Schöne<br />
und das Gute und alles andere, was du gerade genannt hast; und der Beweis scheint mir hinreichend<br />
erbracht zu sein."<br />
"Und was ist mit Kebes?" fragte Sokrates. "Wir müssen ja auch Kebes überzeugen."<br />
"Es ist für ihn auch hinreichend, glaube ich", sagte Simmias. "Allerdings ist er der hartnäckigste von allen<br />
Menschen, wenn es um das Bezweifeln von Argumenten geht. Dennoch glaube ich, dass er durchaus<br />
davon überzeugt ist, dass vor unserer Geburt [77b] unsere Seele schon da war. Ob sie aber auch noch da<br />
sein wird, wenn wir sterben, das, Sokrates", fuhr er fort, "scheint auch mir selbst noch nicht erwiesen zu<br />
sein. Vielmehr steht noch im Raum, was Kebes vorhin sagte: die Befürchtung der Leute, dass die Seele,<br />
wenn der Mensch stirbt, sich auch selbst verflüchtigt und dass dies das Ende ihrer Existenz ist. Denn was