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Der Sandmann Nathanael an Lothar Gewiß seid Ihr ... - ETA Hoffmann

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Stellung die Hände auf der Brust zum Kreuz verschränkt. Erstaunt wichen die Sp<strong>an</strong>ier zurück und durch ihre Reihen<br />

zog Julia mit den Mohren nach der Kathedrale – hineintretend intonierte sie das: »Benedictus qui venit in nomine<br />

domini.« Unwillkürlich, als komme die Heilige vom Himmel gesendet, Heiliges zu verkünden den Gesegneten des<br />

Herrn, beugte das Volk die Knie. Festen Schrittes, den verklärten Blick gen Himmel gerichtet, trat Julia vor den<br />

Hochaltar zwischen Ferdin<strong>an</strong>d und Isabellen, das Amt singend und die heiligen Gebräuche mit inbrünstiger Andacht<br />

übend. Bei den letzten Lauten des: »Dona nobis pacem«, s<strong>an</strong>k Julia entseelt der Königin in die Arme. Alle Mohren,<br />

die ihr gefolgt, empfingen, zum Glauben bekehrt, selbigen Tages die heilige Taufe.<br />

So hatte der Enthusiast seine Geschichte geendet, als der Doktor mit vielem Geräusch eintrat, heftig mit dem Stock<br />

auf die Erde stieß und zornig schrie: »Da sitzen sie noch und erzählen sich tolle f<strong>an</strong>tastische Geschichten ohne<br />

Rücksicht auf Nachbarschaft und machen die Leute kränker.« – »Was ist denn nun wieder geschehen, mein<br />

Wertester«, sprach der Kapellmeister g<strong>an</strong>z erschrocken. »Ich weiß es recht gut«, fiel der Enthusiast g<strong>an</strong>z gelassen<br />

ein. »Nichts mehr und nichts weniger, als daß Bettina uns stark reden gehört hat, dort ins Kabinett geg<strong>an</strong>gen ist und<br />

alles weiß.« – »Das habt <strong>Ihr</strong> nun«, sprudelte der Doktor, »von Euren verdammten lügenhaften Geschichten,<br />

wahnsinniger Enthusiast, daß <strong>Ihr</strong> reizbare Gemüter vergiftet – ruiniert, mit Eurem tollen Zeuge; aber ich werde Euch<br />

das H<strong>an</strong>dwerk legen.« – »Herrlicher Doktor!« unterbrach der Enthusiast den Zornigen, »ereifert Euch nicht und<br />

bedenkt, daß Bettinas psychische Kr<strong>an</strong>kheit psychische Mittel erfordert und daß vielleicht meine Geschichte« – »Still<br />

still«, fiel der Doktor g<strong>an</strong>z gelassen ein, »ich weiß schon, was <strong>Ihr</strong> sagen wollt.« – »Zu einer Oper taugt es nicht, aber<br />

sonst gab es darin einige sonderbar klingende Akkorde.« So murmelte der Kapellmeister, indem er den Hut ergriff und<br />

den Freunden folgte.<br />

Als drei Monat darauf der reisende Enthusiast der gesundeten Bettina, die mit herrlicher Glocken-Stimme Pergoleses<br />

Stabat mater (jedoch nicht in der Kirche, sondern im mäßig großen Zimmer) gesungen hatte, voll Freude und<br />

<strong>an</strong>dächtigen Entzückens die H<strong>an</strong>d küßte, sprach sie: »Ein Hexenmeister sind Sie gerade nicht, aber zuweilen etwas<br />

widerhaarigter Natur«, »wie alle Enthusiasten«, setzte der Kapellmeister hinzu.<br />

Zweiter Teil<br />

Das öde Haus<br />

M<strong>an</strong> war darüber einig, daß die wirklichen Erscheinungen im Leben oft viel wunderbarer sich gestalten, als alles, was<br />

die regste F<strong>an</strong>tasie zu erfinden trachte. »Ich meine«, sprach Lelio, »daß die Geschichte davon hinlänglichen Beweis<br />

gibt und daß eben deshalb die sogen<strong>an</strong>nten historischen Rom<strong>an</strong>e, worin der Verfasser, in seinem müßigen Gehirn bei<br />

ärmlichem Feuer ausgebrütete Kindereien, den Taten der ewigen, im Universum wartenden Macht beizugesellen sich<br />

unterfängt, so abgeschmackt und widerlich sind.« – »Es ist«, nahm Fr<strong>an</strong>z das Wort, »die tiefe Wahrheit der<br />

unerforschlichen Geheimnisse, von denen wir umgeben, welche uns mit einer Gewalt ergreift, <strong>an</strong> der wir den über uns<br />

herrschenden, uns selbst bedingenden Geist erkennen.« – »Ach!« fuhr Lelio fort, »die Erkenntnis, von der du sprichst!<br />

– Ach das ist ja eben die entsetzlichste Folge unserer Entartung nach dem Sündenfall, daß diese Erkenntnis uns<br />

fehlt!« – »Viele«, unterbrach Fr<strong>an</strong>z den Freund, »viele sind berufen und wenige auserwählt! Glaubst du denn nicht,<br />

daß das Erkennen, das beinahe noch schönere Ahnen der Wunder unseres Lebens m<strong>an</strong>chem verliehen ist, wie ein<br />

besonderer Sinn? Um nur gleich aus der dunklen Region, in die wir uns verlieren könnten, heraufzuspringen in den<br />

heitren Augenblick, werf ich euch das skurrile Gleichnis hin, daß Menschen, denen die Sehergabe [gegeben], das<br />

Wunderbare zu schauen, mir wohl wie die Fledermäuse bedünken wollen, <strong>an</strong> denen der gelehrte Anatom Spal<strong>an</strong>z<strong>an</strong>i<br />

einen vortrefflichen sechsten Sinn entdeckte, der als schalkhafter Stellvertreter nicht allein alles, sondern viel mehr<br />

ausrichtet, als alle übrige Sinne zusammengenommen.« – »Ho ho«, rief Fr<strong>an</strong>z lächelnd, »so wären denn die<br />

Fledermäuse eigentlich recht die gebornen natürlichen Somnambulen! Doch in dem heitern Augenblick, dessen du<br />

gedachtest, will ich Posto fassen und bemerken, daß jener sechste bewundrungswürdige Sinn vermag <strong>an</strong> jeder<br />

Erscheinung, sei es Person, Tat oder Begebenheit, sogleich dasjenige Exzentrische zu schauen, zu dem wir in

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