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Das „Schlägerweib“ von Nürnberg<br />
Warum Nicole dennoch Neo-Nazis nicht mag<br />
Rechte Gewalt<br />
In Nürnberg (Name geändert) ist sie<br />
als „Schlägerweib“ bekannt, wie sie<br />
sich selbst tituliert. Mit 12 stand sie<br />
erstmals im Boxring über drei Runden.<br />
Ihre russische Gegnerin warf in<br />
der zweiten Runde das Handtuch,<br />
technischer k.o. Nach einer kurzen<br />
Boxerinnenkarriere folgte eine Drogenkarriere,<br />
ein Selbstmordversuch,<br />
Psychiatrieeinweisung. Seit einem<br />
halben Jahr lebt die heute 15jährige<br />
Nicole (Name geändert) mit drei<br />
anderen Mädchen im pfälzischen<br />
Wendelinushof. Zwei weitere Teenies<br />
sind soweit resozialisiert, dass sie außerhalb<br />
der Gruppe in angemieteten<br />
Zimmern ihr eigenes Zuhause haben<br />
dürfen. Das geräumige Anwesen mit<br />
dem großem Garten gehört zum „Sozialpädagogischen<br />
Bildungszentrum“<br />
in Landau-Queichheim, getragen<br />
von der katholischen Kirche.<br />
Jedes Mädchen, so Erzieherin Gudrun<br />
Bauer, komme traumatisiert<br />
hierher, beispielsweise sexuell missbraucht<br />
worden zu sein. Die meisten<br />
schicken die Jugendämter. Die 13<br />
bis 19jährigen sind straffällig geworden,<br />
hatten Zoff mit ihren Eltern<br />
und kamen mit der Schule nicht zurecht.<br />
Sie standen am „Rande der<br />
Psychiatrie“, wie es Erziehungsleiter<br />
Diplom-Psychologe Eckard Büdding<br />
ausdrückt. Das wichtigste Ziel sei der<br />
Hauptschulabschluss und der Einstieg<br />
in einen Beruf. Der Beruf sei<br />
Ziel und Weg zugleich, erklärt Büdding,<br />
„ein Vehikel für die Persönlichkeitsbildung<br />
und gesellschaftliche Integration“.<br />
Auf einem guten Weg befindet sich<br />
wohl auch Nicole, ein mittelgroßes<br />
Mädchen mit hübschem Gesicht<br />
und halblangen dunklen Haaren,<br />
gepierct an Bauch und Kinn, silberner<br />
Nasenstecker, sieben Ohrringe<br />
rechts, mit einem chicen gelben<br />
Handy und bekleidet mit einem<br />
aufreizenden schwarzem Minirock.<br />
Sie flog von Schule zu Schule, „keiner<br />
wollte mich“, erzählt sie. Vorschriften<br />
und Regeln machten ihr zu<br />
schaffen, jede Form von Bevormundung.<br />
Ständig muckte sie auf, und<br />
„wenn mich eine blöd angeguckt hat,<br />
schlug ich drauf los“. Sehr bald begann<br />
sie zu kiffen und zu koksen. Mit<br />
ihrer Clique, nicht selten alkoholisiert,<br />
streunte sie durch Nürnberg<br />
und machte jeden an, der ihr nicht<br />
passte. Mit 12 lernt sie ihre erste Liebe<br />
Ramazzan, einen jungen Türken,<br />
kennen und ist schon bald intim mit<br />
ihm, wechselt zwischen Pille und<br />
Pariser. Noch heute erinnert das tätowierte<br />
„R“ auf ihrem linken Arm<br />
an ihn. Als er sie verließ, brach die<br />
Welt zusammen, wollte sie mit ihrem<br />
Leben abschließen. Mit einer<br />
Rasierklinge. Rechtzeitig gerettet,<br />
verbrachte sie anschließend ein halbes<br />
Jahr in einer Jugendpsychiatrie.<br />
Ihre Eltern und ihre beiden Geschwister<br />
leben in Nürnberg. Mittlerweile<br />
ist sie wieder mit einem Türken<br />
zusammen, 23jährig, Schweißer.<br />
Wenn sie drei Wünsche frei hätte....<br />
Sie hat nur einen: sich zu verändern,<br />
ein anderer Mensch zu werden, raus<br />
aus den Drogen und raus aus der Aggression.<br />
Gudrun Bauer bescheinigt<br />
ihr erste positive Veränderungen.<br />
„Am Anfang war sie mächtig aufgedreht<br />
und gewaltbereit“, erinnert sie<br />
sich. Jetzt sei sie ruhiger geworden.<br />
Sie merke, „dass man mit uns umgehen<br />
kann, sie wenig eingrenzt wird.“<br />
Nur einmal sei sie bisher über die<br />
Stränge geschlagen, eine Nacht weggeblieben<br />
und nicht um neun Uhr<br />
abends (Wochenende zehn) rechzeitig<br />
nach Hause gekommen. Nicole<br />
geht in die Hauptschule der Einrichtung,<br />
„noch ein Jahr“ und schreibt<br />
momentan nur Einsen. Später möchte<br />
sie zurück nach Nürnberg und Friseurin<br />
werden. Manchmal träumt sie<br />
von einer Sängerkarriere, denn sie<br />
scheint talentiert zu sein. Bei einem<br />
demnächst stattfindenden Musikworkshop<br />
in Münster hat sie ihren<br />
ersten Soloauftritt, vermutlich wird<br />
auch ein türkisches Lied dabei sein.<br />
Mit Skinhead Lisa in der<br />
Wohngruppe<br />
Mit Syleyman befreundet, ärgert sie<br />
sich über Lisa aus der Wohngruppe.<br />
Lisa, sechzehnjährig, ist bekennender<br />
Skinhead, mag Hitler und lässt<br />
gerne die rechten Sänger aus ihrem<br />
Radio plärren. Hie und da zieht die<br />
kahlköpfige Lisa ihre Springerstiefel<br />
an, Sandra findet so etwas „ätzend“.<br />
Lisa wolle zwar nicht provozieren,<br />
entschuldigt Sandra, trage aber ihre<br />
faschistische Haltung wortreich werbend<br />
vor sich her. Kann man was<br />
dagegen machen? „Manche“, versucht<br />
sie zu erklären, „brauchen das,<br />
weil sie nicht wissen, woran sie sich<br />
halten sollen, außerdem die Clique,<br />
da musst du mitmachen.“ Vom Neonazi-Gehabe<br />
abgesehen, lobt Gudrun<br />
Bauer Lisas täglichen Umgangston<br />
und die Essmanieren. Für sie ist<br />
das Radikalen-Getue eine pubertäre<br />
Suche nach Orientierung, „das geht<br />
wieder vorbei“, meint sie. Zuviel<br />
darüber zu reden, wirke wie eine öffentliche<br />
Bestätigung. Wenn freilich<br />
die verbale Protzerei in Gewalt umschlage,<br />
sei die Grenze überschritten,<br />
dann dürfe es kein Pardon geben.<br />
Angst vor Rechtsradikalen hat Nicole<br />
nicht, wenn sie mit ihrem türkischen<br />
Freund unterwegs ist. Noch immer<br />
kann sie sich auf ihre Fäuste verlassen.<br />
Das Boxen möchte sie gerne wieder<br />
aufnehmen, „aber Landau hat<br />
keine gute Staffel“.<br />
Sie ist 15 und sieht aus wie 18. Noch<br />
ist Sandra labil und wenig gefestigt,<br />
sucht ihren Weg in die Normalität,<br />
was immer das heißen mag. Leicht<br />
ist das nicht, aber ErzieherInnen und<br />
PsychologInnenen begleiten sie bei<br />
ihrer Selbstfindung. Erst neulich erlitt<br />
Sandra wieder einen Rückschlag.<br />
Es gab Ärger mit ihrem Freund, Verlustängste<br />
und Wut, die sie gegen<br />
sich selbst richtete. Mit Glasscherben<br />
zerschnitt sie sich ihren linken<br />
Unterarm. Vor einigen Tagen wurden<br />
die Fäden gezogen.<br />
Paul Schwarz<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 10/ 00<br />
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