Ethnologie «Wachsende ungleichheit ist das grösste Problem» Die Ethnologie untersucht, wie sich Globalisierung auf den Alltag auswirkt. Und sie ermöglicht einen kritischen Blick auf die Politik von Staaten und internationalen Organisationen. Mit der Ethnologin Shalini Randeria sprach Sascha Renner. sich auch ein integrierendes Element in einer insgesamt stark fragmentierten Gesellschaft festmachen. Wo der Sozialstaat fehlt, gewährleistet die Kaste insbesondere für die Armen die soziale Sicherheit. Das Studium der Sozialanthropologie und Soziologie gab mir die Gelegenheit, Teile der eigenen Gesellschaft, mit denen ich als Kind aus der Mittelschicht nicht vertraut war, verstehen zu lernen. Warum interessierten Sie sich dafür? Randeria: Die indische Moderne, die ich als meine primäre Prägung ansehe, ist ohne Verweis auf Europa nicht zu verstehen. Auch wenn sie keine blosse Nachahmung von Ideen und Institutionen westlichen Ursprungs darstellt. Es gibt keinen Zugang zu eigenen Traditionen mehr, der nicht durch die Optik des kolonialen Diskurses geprägt wäre. Das Verständnis dieser doppelten Verankerung aller zeitgenössischen Institutionen in der Tradition und der Moderne erfordert zum einen eine kritische Auseinandersetzung mit westlichen Theorien und zum anderen fundierte empirische Forschung. Mein Motiv war aber auch ein politisches, denn wissenschaftliche Erkenntnisse sind für gesellschaftspolitische Fragen sehr relevant. In Indien sind Fragen der sozialen Theorie untrennbar mit der politischen Praxis verknüpft. Denn Fragen der Übernahme westlicher Kategorien im postkolonialen Kontext, der Normativität und des Eurozentrismus westlicher Theorien sind nicht bloss wissenschaftlicher Natur, sondern haben politische Implikationen und werden auch in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Läuft politische Arbeit dem Gebot einer objektiven und neutralen Sichtweise nicht zuwider, wie sie die Wissenschaft fordert? Randeria: Nein. Man muss unterscheiden zwischen Objektivität und Neutralität. Wissenschaft muss schon objektiv sein, aber sie muss deswegen nicht neutral sein. Eine kritisch engagierte Wissenschaft ist wichtig, um sich nach aussen hin zu legitimieren. Die entscheidende Frage lautet vielmehr, wie dieses Engagement aussehen soll. Darf es sich in Politikberatung – in einer Eins-zu-eins-Übersetzung unserer wissenschaftlichen Inhalte – erschöpfen? Die Ethnologie ist für mich kein Handwerk für eine bessere Entwicklungsoder Migrationspolitik, sondern ein Wissenskorpus, das beispielsweise eine kritische Betrachtung von staatlichen Praktiken sowie der Politik internationaler Organisationen in ihren lokalen Auswirkungen in verschiedenen Weltregionen ermöglicht. «Ethnologie macht die Fremdheit zum methodischen Prinzip – sie eignet sich das Fremde an und verfremdet das Eigene.» Frau Randeria, die Ethnologie ist die Wissenschaft vom Anderen, Fremden. Wo liegt dieses Andere für Sie, als Ethnologin indischer Herkunft? Shalini Randeria: Das Andere oder Fremde lässt sich nicht durch räumliche Distanz definieren. Es kann weit entfernt liegen, aber auch nebenan sein und den gleichen Raum mit dem Eigenen teilen. Wenn Sie die Frage biografisch stellen: Ich wuchs in einem urbanen Milieu auf, in einer progressiven atheistischen Familie, die die Kasten- und sozialhierarchischen Normen konsequent missachtete. Meine Urgrossmutter, die bereits 1903 zu den ersten Frauen Indiens mit einem Hochschulabschluss zählte, trat für die Witwenheirat und gemischte Kastenehen ein. Mein Urgrossvater, ein Rechtsanwalt und Romancier, hatte zahlreiche satirische Romane über die Hindu- Orthodoxie geschrieben, was zum Ausschluss aus der eigenen Kaste führte. In Ihrer Doktorarbeit beschäftigten Sie sich dann ausgerechnet mit dem Kastenwesen auf dem Lande. Randeria: Ja! Ich eignete mir intellektuell an, was zu Hause verpönt und nicht mehr vorhanden war, aber für die überwiegende Mehrheit der indischen Bevölkerung das wichtigste Bezugssystem darstellte. Ich erinnere mich an amüsante Streitgespräche mit meiner Grossmutter, in denen ich bestimmte Traditionen zu verteidigen versuchte. Denn an der Kaste lässt Anthony Giddens, der berühmte britische Soziologe, hat vor ein paar Jahren den Satz geschrieben: «Die Ethnologie stirbt als Wissenschaft aus, weil es ihren Gegenstand – die schrift- und staatenlosen Gesellschaften – bald nicht mehr geben wird.» Droht der Ethnologie tatsächlich der wissenschaftliche Tod? Randeria: Die Ethnologie hat meines Erachtens auch heute eine Daseinsberechtigung. Denn sie ist wie keine andere Wissenschaft in der Lage, kontextgebundenes, perspektivisches Wissen zu produzieren, nicht abstrakte Generalisierungen. Die Ethnologie unterscheidet sich heute nicht mehr in ihrem Gegenstand von der Soziologie oder der Politikwissenschaft. Aber sie zeichnet sich einerseits durch eine vergleichende Perspektive, andererseits durch die Produktion von nichteurozentrischem Wissen aus. Ferner macht die Ethnologie die Fremdheit zum methodischen Prinzip. Sie eignet sich das Fremde an und verfremdet das Eigene beziehungsweise stellt diese Unterscheidung selbst in Frage. Aus einer 26 UNIMAGAZIN 1/<strong>08</strong> Website www.ethno.uzh.ch Bild Tom Haller
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