Literaturwissenschaft Herr Kiening, 2007 war das «Jahr der Geisteswissenschaften». Hat diese Initiative des deutschen Bildungsministeriums etwas am Status, an der öffentlichen Wahrnehmung und am Selbstbewusstsein der Geisteswissenschaften verändert? Christian Kiening: In den Geisteswissenschaften bewegt sich momentan sehr viel, und in Deutschland hat das Jahr der Geisteswissenschaften mit einer Fülle von Veranstaltungen und Aktivitäten für viel positive Resonanz gesorgt. In der Schweiz ist es jedoch weitgehend unsichtbar geblieben. Wie steht es Ihrer Meinung nach im All gemeinen um die Präsenz der Geistes wissenschaften in der Öffentlichkeit? Kiening: An den Prozessen der Kultur sind Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in zentraler Weise beteiligt. Ihre Vermittlungs-, Erklärungs- und Interpretationsarbeit wird gebraucht und auch wahrgenommen. «Geschichte muss erfahrbar sein» Um mehr von ihrem Gegenstand zu verstehen, müssen auch Geisteswissenschaftler experimentieren – mit neuen Fragestellungen und Herangehensweisen, sagt Christian Kiening. Mit dem Literaturhistoriker sprach David Werner. Wenn es darum geht, die eigene Forschungsarbeit in einer breiteren Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen, wirken viele Geisteswissen schaftlerinnen und -wissenschaftler jedoch vergleichs weise zurückhaltend. Warum eigentlich? Kiening: Griffige Ergebnisse, wie sie Naturwissenschaften und auch empirische Sozialwissenschaften präsentieren, können wir selten bieten, weil unsere Arbeit auf die Beschreibung von Prozessen – Prozessen des kulturell Imaginären – gerichtet ist. Keine Formel, keine Statistik, kein «Produkt» steht hier am Ende, sondern neue ausschnitthafte Einsichten in teils bekannte, teils unbekannte Bereiche der Kultur in Vergangenheit und Gegenwart. Das Ziel ist, mit diesen Einsichten zugleich ein Mehr an Komplexität sichtbar zu machen – ohne unverständlich zu werden oder unbefriedigende Verkürzungen vorzunehmen. Darin besteht ein Dilemma geisteswissenschaftlicher Arbeit, die sich in einem Kontext bewegt, in dem wissenschaftliche Leistung immer mehr nach Quantitäten und spektakulären Effekten beurteilt wird. Gibt es Auswege aus diesem Dilemma? Kiening: Wir sollten uns nicht zu sehr darauf verpflichten lassen, Forschung resultatorientiert zu betreiben. Das gilt nicht nur im Hinblick auf die Öffentlichkeit, sondern auch im Hinblick auf die Forschungsförderung, die ja meist ebenfalls klare Ziele und Ergebnisse einfordert. Wir werden dem genuinen Charakter geisteswissenschaftlicher Forschung gerechter, wenn wir sie in ihrer Lebendigkeit, Offenheit und Vielfalt profilieren und als Arbeit an einem seinerseits lebendigen und ständig in Bewegung befindlichen Gegenstand zeigen – zum Beispiel, indem wir nachvollziehbar machen, wie wir zu einer bestimmten Position, einer innovativen Fragestellung, einer neuen Sichtweise gefunden haben. Sie sprechen von neuen Sichtweisen, neuen Positionen. Wie steht es um die Rolle der Geisteswissenschaften als Hüterinnen des kulturellen «Wir sollten uns nicht zu sehr darauf verpflichten lassen, Forschung resultatorientiert zu betreiben.» Gedächtnisses – gerade auch in Ihrem Fachgebiet, der Mediävistik? Kiening: Mit blossem Tradieren und Bewahren ist es nicht getan – man muss Geschichte erfahrbar machen, damit sie zur Bereicherung der Gegenwart beiträgt. Geschichte war nie so umfassend dokumentiert wie heute, nie so einfach verfügbar. Wir besitzen grossartige technische Möglichkeiten, uns rasch ein detailreiches Bild über zeitlich und räumlich fernste Kulturphänomene zu machen. Diese Möglichkeiten aber bringen auch eine Kolonisierung der Geschichte durch die Gegenwart mit sich, ihre Assimilierung an unsere Denk-, Wahrnehmungs- und Darstellungsgewohnheiten. Die Aufgabe der Geisteswissenschaften besteht nicht zuletzt darin, dieser Assimilierung zu widerstehen, das Ausgeblendete, den Horizont Überschreitende zur Geltung zu bringen, um so komplexere Beziehungen von Vergangenheit und Gegenwart denkbar zu machen. Die Mediävistik scheint dafür paradigmatisch geeignet, hat sie es doch mit einer Vergangenheit zu tun, die einerseits relativ weit entfernt, andererseits auf vielerlei Weise in unserer Gegenwart präsent ist. Sie ermöglicht damit, im geschichtlich Fremdartigen auch das gegenwärtig scheinbar allzu Vertraute neu zu sehen. Kann man daraus schliessen, dass Sie als Dozent Ihren Studierenden das Mittelalter eher fremd zu machen versuchen, als es ihnen näherzubringen? Kiening: Es geht immer um ein Wechselspiel von Nähe und Distanz. Es kann sich beispielsweise lohnen, probehalber so zu tun, als sei ein mittelalterlicher alemannischer Text so fremd wie eine ägyptische Hieroglypheninschrift. Das schärft den Blick und verdeutlicht die Notwendigkeit geduldiger Rekonstruktion. Aus der strukturellen Analyse von Analogien und Differenzen ist dann mehr und Grundsätzlicheres zu lernen als aus der spontanen Angleichung. 56 UNIMAGAZIN 1/<strong>08</strong> Website www.ds.uzh.ch Bild Tom Haller
Christian Kiening, Literaturhistoriker 57
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