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der Erinnerung, doch ein Phantom. Ich sehe ihn als<br />
gütigen Gnom vor mir, ein gedrungenes Männchen mit<br />
Spitzbart, verschmitzt, mit wachem Blick hinter runden<br />
Gläsern. Jeden Herbst erlebte ich ihn, wenn wir nach<br />
Sottopassaggio in die Ferien fuhren. (Das, wie ich später<br />
lernte, in Wirklichkeit Monterosso al mare hiess; aber<br />
das Schild auf dem Perron besagte: «Sottopassaggio»,<br />
und es war mein erstes italienisches Wort.) Zugleich<br />
todernst und doch clownesk erschien Schädelin, ein<br />
Grock; einer, der einem Fellini-Film hätte entsprungen<br />
sein können. Zeit meiner Kinderjahre war ich überzeugt,<br />
dass er der Mann auf der Zehnernote sei, und als ich –<br />
das rosa Nötli war schon nicht mehr in Umlauf – erfuhr,<br />
es habe sich um Gottfried Keller gehandelt, mochte ich<br />
es nicht glauben.<br />
Als der Zehnernötlimann<br />
baden ging<br />
Erstaunlich, wie ungeniert der untersetzte Herr Mitte<br />
fünfzig sich an «Shades of Grey 3 – Befreite Lust» verlustiert.<br />
Was er dabei für ein Gesicht macht, sehe ich nicht,<br />
denn er hält sich das Buch steif vors Gesicht. Nun zückt<br />
dort drüben eine junge Frau ihr E-Book, weiter vorn ist<br />
einer mit Adidasjäckchen in «Home Run» von John<br />
Grisham vertieft. Soll gut sein, aber, ach: Ich Büchermuffel<br />
werde es ja doch wieder nicht schaffen, es zu lesen.<br />
Stattdessen trage ich herausgerissene Zeitungsseiten mit<br />
mir herum, oft wochenlang: eine Palästina-Reportage<br />
aus der «NZZ», Peter Bichsels Kolumne aus der «Schweizer<br />
Illustrierten», eine Analyse aus der «Aargauer Zeitung»,<br />
weshalb die Young Boys nicht vom Fleck kommen,<br />
die sich als schlau erweist, als ich irgendwo<br />
zwischen Gümmenen und Domdidier endlich dazukomme,<br />
sie zu lesen. Beneidenswert, wer sich im Feierabendverkehr<br />
die Musse für ein Buch nimmt!<br />
Und es gibt ja Leute, die ein Buch mehr als einmal lesen.<br />
Ich habe einzig «Mein Name ist Eugen» mehrmals<br />
gelesen, zweimal in meiner Jugend, ein drittes Mal, als<br />
meine Frau und ich es den Kindern vorlasen. Der Autor,<br />
Klaus Schädelin, Berner Pfarrer und Gemeinderat,<br />
grandioser «Zytlupe»-Satiriker am Radio – er war eine<br />
prägende Figur meiner Kindheit, vertraut und, zumal in<br />
Schädelin, der alte Schalk, eine Erscheinung ausserhalb<br />
von Raum und Zeit. Ich sehe ihn den Strand entlangspazieren<br />
in Anzugshosen, Hemd und Gilet; und mich<br />
dünkt, daran habe das Kettchen einer Taschenuhr gebaumelt.<br />
Wenn die Eltern uns ermahnten, nach dem<br />
Mittagessen zwei Stunden nicht zu baden, rief er aus:<br />
«Chabis, Chinder!» Und rannte – voll bekleidet samt<br />
Hemd und Taschenuhr, das Kalb – in die Brandung. Wir<br />
Kinder, ein Dutzend an der Zahl, johlend hintendrein.<br />
Fuhren wir zum Wochenmarkt nach La Spezia, und der<br />
Zug wollte und wollte nicht kommen, stieg er zum Schotter<br />
hinab und legte sein Ohr auf die Schiene, sagte dann:<br />
«S geit no sächs Minute», und meistens stimmte das sogar.<br />
Wer wohl die Unart, an den Geleisen zu lauschen,<br />
von wem hatte? Der Eugen vom Schädelin oder umgekehrt?<br />
In «Mein Name ist Eugen» behauptet nämlich der<br />
Wrigley, der Gotthardtunnel sei so schnurgerade, dass<br />
man hindurchsehen könne, und als seine Kumpane nur<br />
Schwarz sehen, meint er, ein Zug versperre dänk die<br />
Sicht, worauf Eugen sein Ohr aufs Geleise drückt, um zu<br />
hören, ob das stimme. Aber wenn Sie das nächste Mal in,<br />
sagen wir mal: Allmendingen vergeblich auf den Zug<br />
warten … Tun Sie es nicht! Es gab nur einen Klaus Schädelin.<br />
Der durfte das.<br />
Und wissen Sie, was? Ich steck jetzt einfach den «Eugen»<br />
in meine Umhängetasche. Und auf der nächsten längeren<br />
Bahnfahrt fange ich an, ihn ein viertes Mal zu lesen.<br />
Bänz Friedli<br />
Der Berner Bänz Friedli (48) ist Hausmann und<br />
freier Autor in Zürich. Er ist mit dem GA unterwegs<br />
und kommt mit seinem kabarettistischen<br />
Programm im Land herum. www.baenzfriedli.ch<br />
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