Freiheits- und Schutzrechte der UN-Behindertenrechtskonvention ...
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20 Diakonie Texte 02.2013 Wie lässt sich Zwang vermeiden o<strong>der</strong> reduzieren <strong>und</strong> wie geht die Psychiatrie mit Zwang um?<br />
4. Wie lässt sich Zwang vermeiden o<strong>der</strong> reduzieren<br />
<strong>und</strong> wie geht die Psychiatrie mit Zwang um?<br />
Auch vier Jahrzehnte nach <strong>der</strong> Psychiatriereform hat sich das<br />
Prinzip ambulant vor stationär noch nicht in <strong>der</strong> Breite durchgesetzt.<br />
Das trialogische Denken ist vor zwei Jahrzehnten in<br />
die Psychiatrielandschaft gekommen, doch in <strong>der</strong> psychiatrischen<br />
Ges<strong>und</strong>heitsversorgung vielerorts nicht hinreichend<br />
refl ektiert. Die Ratifi zierung <strong>der</strong> <strong>UN</strong>-BRK im Jahre 2008<br />
bezeichnet einen Paradigmenwechsel auch im Blick auf<br />
Menschen mit seelischen Behin<strong>der</strong>ungen. Anfang 2010 nahm<br />
die Zentrale Ethik-Kommission <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esärztekammer<br />
Stellung zur <strong>UN</strong>-BRK unter an<strong>der</strong>em im Hinblick auf Zwangsmaßnahmen<br />
in <strong>der</strong> Psychiatrie. In <strong>der</strong> Stellungnahme heißt<br />
es: „Dieses heikle Thema verlangt vor dem Hintergr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Konvention neue Aufmerksamkeit. Gemäß <strong>der</strong> Konvention<br />
kann die Anordnung solcher Zwangsmaßnahmen nach kritischer<br />
Erwägung erst dann vorgenommen werden, wenn zuvor<br />
größtmögliche Anstrengungen für alternative Maßnahmen<br />
unternommen worden sind.“<br />
Nach den Urteilen <strong>und</strong> Beschlüssen des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />
<strong>und</strong> des B<strong>und</strong>esgerichtshofs in den Jahren 2011 <strong>und</strong><br />
2012 war <strong>und</strong> ist im psychiatrischen Versorgungssystem die<br />
Verunsicherung groß. Die Diakonie begrüßt die gleichermaßen<br />
notwendige wie überfällige Debatte darüber, was in <strong>der</strong> psychiatrischen<br />
Ordnungsfunktion noch möglich, aber auch was<br />
in <strong>der</strong> psychiatrischen Fürsorgepflicht nötig ist.<br />
Leben weitab im Pflegeheim<br />
Bei Herrn N. wurde eine paranoid-halluzinatorische Psychose<br />
diagnostiert. Er wohnt in einem offenen Wohnheim.<br />
Dort hat sich Herr N. gut eingelebt. Immer wie<strong>der</strong> kommt<br />
es jedoch zu Konflikten mit den Mitarbeiterinnen <strong>und</strong> Mitarbeitern,<br />
da Herr N. überall raucht, auch im Bett. Die Mitarbeiter<br />
befürchten, dass Herr N. nicht nur Brandflecke in<br />
<strong>der</strong> Bettwäsche verursacht, son<strong>der</strong>n Schlimmeres passiert.<br />
Sein gesetzlicher Betreuer hat deshalb die Unterbringung<br />
nach § 1906 BGB beantragt. Herr N. kommt in ein<br />
Pflegeheim weit entfernt von seinem bisherigen Lebensmittelpunkt,<br />
wo die Zigaretten für alle stündlich eingeteilt<br />
werden.<br />
Das neue Psychiatrie-Entgeltgesetz, dass am 1. August 2012<br />
in Kraft getreten ist, erhöht das Risiko, dass psychisch kranke<br />
Menschen in stationärer Behandlung nur noch als „Fälle“<br />
wahrgenommen werden, die möglichst rasch medikamentös<br />
symptomfrei gemacht werden müssen, um das Budget nicht<br />
zu belasten. Die Wahrnehmung des ganzen Menschen in seinem<br />
Leiden, seinen Konfliktlagen, aber auch seinen Ressourcen<br />
<strong>und</strong> seinen Problemlösungsversuchen könnte dadurch<br />
immer mehr in den Hintergr<strong>und</strong> geraten.<br />
4.1 Haltungen, Methoden <strong>und</strong> Verfügungsformen<br />
zur Stärkung <strong>der</strong> Selbstbestimmung<br />
Diakonisches Handeln richtet sich an einem umfassenden<br />
Begriff von Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit aus <strong>und</strong> stellt den<br />
Menschen mit seinen körperlichen, seelischen, sozialen <strong>und</strong><br />
spirituellen Bedürfnissen in den Mittelpunkt. Ges<strong>und</strong>heit wird<br />
nicht vorrangig als Abwesenheit von Krankheit <strong>und</strong> Gebrechen<br />
gesehen, son<strong>der</strong>n als Kraft, mit ihnen zu leben gedeutet<br />
(siehe auch Kapitel 1).<br />
Mit den drei Leitbegriffen Trialog, Empowerment <strong>und</strong> Recovery<br />
sollen drei die Gr<strong>und</strong>sätze diakonischen Handelns konkretisierende<br />
Ansätze erwähnt werden, die neben einer leitliniengerechten<br />
Behandlung aus diakonischer Sicht für eine<br />
gute psychiatrische Versorgung erfor<strong>der</strong>lich sind (vergleiche<br />
dazu auch Diakonie Text 08.2012) <strong>und</strong> mit dazu beitragen<br />
können, Zwangsmaßnahmen zu reduzieren.<br />
Mit Trialog ist <strong>der</strong> gleichberechtigte Austausch von Psychiatrie-<br />
Erfahrenen, Angehörigen <strong>und</strong> professionell Tätigen gemeint.<br />
Psychiatrie-Erfahrene <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Angehörige werden als<br />
Expertinnen <strong>und</strong> Experten aus eigener Erfahrung gefragt.<br />
Durch das Einbeziehen dieser Perspektiven, ist eine erweiterte<br />
Wahrnehmung <strong>der</strong> Situation,<strong>der</strong> Krise <strong>und</strong> ein umfassen<strong>der</strong>es<br />
Verständnis psychischer Erkrankung möglich. 45 Der<br />
trialogische Ansatz erfor<strong>der</strong>t die Beteiligung von Psychiatrie-<br />
45 Vergleiche Thomas Bock, Dorothea Buck, Ingeborg Esterer (Hg): Es<br />
ist normal verschieden zu sein. Psychose-Seminare - Hilfen zum Dialog.<br />
2. aktualisierte Auflage, 2000