15.01.2014 Aufrufe

Herunterladen - tessiner zeitung

Herunterladen - tessiner zeitung

Herunterladen - tessiner zeitung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

26. Juli 2013<br />

19<br />

Literatur<br />

MAGAZIN<br />

von Annegret Diethelm<br />

und Attilio D'Andrea,<br />

www.adad.ch<br />

Die Casa Camuzzi in Montagnola und ihr bekanntester Gast Hermann Hesse<br />

Der Einzug Hermann Hesses<br />

in die Casa Camuzzi am 10.<br />

Mai 1919<br />

Zahlreich sind die berühmten<br />

Persönlichkeiten aus Kunst und<br />

Kultur, die eine Zeitlang in der<br />

Casa Camuzzi ihren Wohnsitz<br />

hatten. Stellvertretend für alle sei<br />

ihr wohl bekanntester und wortreichster<br />

Gast, Hermann Hesse,<br />

vorgestellt, der, sowohl was sein<br />

Wesen als auch seine damalige<br />

Lebenssituation betrifft, als der<br />

Gast bezeichnet werden kann,<br />

der am besten zu ihr passte, ja,<br />

der mit ihr eine geradezu symbiotische<br />

Beziehung lebte.<br />

Die Casa Camuzzi empfing Hermann<br />

Hesse, der sich eben von<br />

seiner Frau Maria Bernoulli und<br />

ihren drei gemeinsamen Söhnen<br />

getrennt und mit dem Entschluss<br />

zum ungebundenen, allein von<br />

inneren Bedürfnissen gelenkten<br />

Dichter- und Malerleben, aus<br />

dem bürgerlichen Leben verabschiedet<br />

hatte, am 10. Mai 1919<br />

mit vier bereits etwas heruntergekommenen<br />

Stuben im zweiten<br />

Obergeschoss des nördlichen<br />

Flügels, von denen sich die eine<br />

mit einem kleinen Balkon zum<br />

verwilderten Terrassengarten hin<br />

öffnete.<br />

Dies schöne, wunderliche Haus<br />

hat mir viel bedeutet und war in<br />

mancher Hinsicht das originellste<br />

und hübscheste von allen denen,<br />

die ich je besass oder bewohnte.<br />

… Garten und Haus<br />

kommen im Klingsor und in anderen<br />

meiner Dichtungen vor.<br />

Manche Dutzendmale habe ich<br />

dies Haus gemalt und gezeichnet,<br />

und bin seinen verzwickten<br />

launischen Formen nachgegangen;<br />

namentlich in den beiden<br />

letzten Sommern, zum Abschied,<br />

habe ich vom Balkon, von den<br />

Fenstern, von der Terrasse aus<br />

noch alle Blicke gezeichnet, und<br />

viele von den wunderlich schönen<br />

Winkeln und Gemäuern im<br />

Garten. Mein Palazzo, Imitation<br />

eines Barock-Jagdschlosses, der<br />

Launen eines Tessiner Architekten<br />

vor etwa fünfundsiebzig Jahren<br />

entsprungen, hat ausser mir<br />

noch eine ganze Reihe von Mietern<br />

gehabt, aber keiner ist so<br />

lange geblieben wie ich, und ich<br />

glaube keiner hat ihn so geliebt<br />

(auch belächelt) und ihn so zur<br />

Wahlheimat werden lassen wie<br />

ich. (Hermann Hesse, Kurzgefasster<br />

Lebenslauf 1931)<br />

Klingsors letzter Sommer<br />

Der Zufall oder das Schicksal<br />

wollte es, dass ihn der erste Sommer<br />

in Montagnola mit einer<br />

aussergewöhnlichen, ja fiebrigen<br />

Hitze umfing, die sich auf ihn<br />

übertrug und sich gleichsam in<br />

der 1920 erschienenen Erzählung<br />

“Klingsors letzter Sommer”<br />

entlud. Klingsor und Hesse,<br />

Klingsors Schlösschen und sein<br />

Garten, die Casa Camuzzi und<br />

ihr Terrassengarten, alles verschmilzt<br />

in Einem, genährt noch<br />

durch die Beschäftigung mit<br />

Vincent van Gogh, über den<br />

Hesse eigentlich hätte ein Buch<br />

schreiben sollen, dies aber nie<br />

tat. Unter ihm sank tief und<br />

schwindelnd der alte Terrassengarten<br />

hinab, ein tief durchschattetes<br />

Gewühl dichter<br />

Baumwipfel, Palmen, Zedern,<br />

Kastanien, Judasbaum, Blutbuche,<br />

Eukalyptus, durchklettert<br />

von Schlingpflanzen, Lianen,<br />

Glyzinien. Über der Baum-<br />

DIESER VERSCHLAFENE ALTE<br />

GARTEN HÄNGT ZWISCHEN<br />

MIR UND DER WELT. (HERMANN HESSE)<br />

Die Casa öffnet sich mit den Seitenflügeln gegen den Garten<br />

Ein reich ausgestattetes Zimmer mit bemalter Decke<br />

schwärze schimmerten blassspiegelnd<br />

die grossen blechernen<br />

Blätter der Sommermagnolien,<br />

riesige schneeweisse Blüten<br />

dazwischen halbgeschlossen,<br />

gross wie Menschenköpfe, bleich<br />

wie Mond und Elfenbein, von denen<br />

durchdringend und beschwingt<br />

ein inniger Zitronenduft<br />

herüberkam. (Hermann<br />

Hesse, Klingsors letzter Sommer)<br />

Hermann Hesse überfiel ein<br />

Schaffensrausch ohnegleichen.<br />

Ein Sommer von einer Kraft und<br />

Glut, einer Lockung und Strahlung<br />

erfüllte ihn wie starker<br />

Wein. Die glühenden Tage wanderte<br />

ich durch die Dörfer und<br />

Kastanienwälder, sass auf dem<br />

Klappstühlchen und versuchte,<br />

mit Wasserfarben etwas von dem<br />

flutenden Zauber aufzubewahren;<br />

die warmen Nächte sass ich<br />

bis zu später Stunde (…) in<br />

Klingsors Schlösschen und versuchte,<br />

etwas erfahrener und besonnener,<br />

als ich es mit dem Pinsel<br />

konnte, mit Worten das Lied<br />

dieses unerhörten Sommers zu<br />

singen. So entstand die Erzählung<br />

vom Maler Klingsor. (Hermann<br />

Hesse, Erinnerung an<br />

Klingsors Sommer, 1938)<br />

Beschreibungen der vier Stuben<br />

Hesses<br />

Der Leipziger Kulturredakteur<br />

Die Casa Camuzzi in Montagnola und ihr Garten gehen auf die<br />

Pläne des am russischen Zarenhof tätigen Architekten Agostino<br />

Camuzzi (1808-1870) zurück, der sein Elternhaus in Montagnola<br />

in den Jahren vor seiner definitiven Rückkehr ins heimatliche<br />

Dorf im Jahr 1854 erweitert und umgebaut sowie die<br />

talseitige Gartenanlage gestaltet hat (siehe TZ vom 5. Juli).<br />

Blick über Garten, See und Berge<br />

Hermann Hesses Studierstube<br />

Heinrich Wiegand beschrieb die<br />

Zimmer Hesses in eher nüchterner<br />

Weise: Ich öffne die Tür, und<br />

er kommt auf mich zu: mittelgross,<br />

dunkelbraun und rot, mit<br />

Brille, starkem blossem Hals,<br />

gelbem Basthemd und Flanellhose<br />

mit Gürtel, in Filzschuhen<br />

und derben Strümpfen (…) Im<br />

nicht sehr hohen Zimmer mit<br />

drei Türen steht ein langer ungedeckter<br />

Tisch, Regale an den<br />

Wänden, bis oben mit Büchern<br />

angefüllt, Bilder über Bilder, viele<br />

eigene Aquarelle. (…) Dies ist<br />

sein Esszimmer und Magazin.<br />

Wir gehen durch die wenig stabile<br />

Tür in sein Wohn- und Arbeitszimmer.<br />

– Es ist heller, geräumiger.<br />

Der Schreibtisch, Regal über<br />

und an Regal, Versuch zu einer<br />

Kartothek, Bild an Bild, Zeichnungen<br />

angezweckt, gerahmt<br />

und ungerahmt, eigene, fremde,<br />

ein Tisch mit Manuskripten, eine<br />

Smith-Schreibmaschine, Stühle<br />

(…) viele Kissen aller Arten, ein<br />

Sofa mit einem weiteren Tisch.<br />

Man sieht: Wildnis, schöne Wildnis,<br />

Bücherstösse auf der Erde.<br />

Ein Regal mit eigenen Werken,<br />

Bildermappen, eine Tür zum<br />

Balkon.<br />

Die gleichen Zimmer erfahren in<br />

Hesses “Spaziergang im Zimmer”<br />

eine übersteigerte Beschreibung.<br />

Es werde hier nur<br />

provisorisch gelebt und nicht<br />

richtig gewohnt. Kein Kühlschrank,<br />

weder Bad, warmes<br />

Wasser, noch überhaupt eine zuverlässige<br />

Wasserversorgung im<br />

Hochsommer. Der Polsterstuhl<br />

am Schreibtisch sei durchgesessen,<br />

Berge von Büchern, Briefen,<br />

Verpackungsmaterial und Bildermappen,<br />

angefüllt mit der<br />

Ernte seiner vormittäglichen<br />

Malerstreifzüge auf den roten<br />

Ziegelfliessen des Fussbodens.<br />

Zigarrenkisten, Flaschen, Leim,<br />

Zeichentinte und Pinselbehälter<br />

auf grob gezimmerten Regalen<br />

und Fensterbänken. An den Wänden,<br />

auch in Küche und Schlafzimmer,<br />

teils in kleinen Goldrahmen,<br />

teils zu häufigem Wechsel<br />

provisorisch mit Reisszwecken<br />

befestigt, umgaben ihn seine<br />

Aquarelle wie eigene Träume.<br />

(Volker Michels, Meine noble<br />

Ruine)<br />

Alles ist voll und wird immer voller,<br />

nirgends ist Platz! Die Wände<br />

habe ich längst vollgemalt.<br />

(…) Die Bücherschäfte krachen<br />

und hängen schief, so sehr sind<br />

sie mit doppelten Buchreihen<br />

überlastet. Und immer kommen<br />

neue dazu, immer wieder liegt<br />

mein Studierzimmer voll von Paketen,<br />

vorsichtig und langbeinig<br />

muss ich zwischen ihnen meinen<br />

Weg suchen. (Hermann Hesse,<br />

Buchbesprechung “Rückkehr<br />

aufs Land”)<br />

Volker Michels bringt es auf den<br />

Punkt: Wenn Expressionismus<br />

Ausdruckswille bedeutet, dann<br />

waren die vier chaotisch anmutenden<br />

Stuben ein Kraftwerk auf<br />

kleinstem Raum, so unübersichtlich<br />

wie für den Laien das Masten-,<br />

Generatoren- und Transformatorengewirr<br />

eines Umspannwerkes.<br />

Denn alles darin<br />

war einzig auf Leistung abgestimmt:<br />

auf das Malen, das Lesen<br />

und Schreiben. Hunderte von<br />

Aquarellen, Gedichten, Betrachtungen,<br />

Buchbesprechungen und<br />

Erzählungen sind hier entstanden,<br />

ganz zu schweigen von Büchern<br />

wie Siddharta, Der Steppenwolf,<br />

Kurgast, die Nürnberger<br />

Reise, Narziss und Goldmund.<br />

(Volker Michels, Meine<br />

noble Ruine)<br />

Ich sehe die Welt da unten liegen<br />

und denke: du kannst mir gestohlen<br />

werden. (Hermann Hesse)<br />

Nachtrag: Das Ende<br />

Jede auch noch so leidenschaftliche<br />

Zeit muss offensichtlich einmal<br />

ein Ende nehmen. 1927 entwurzelte<br />

ein Sturm den Judasbaum,<br />

als Hesse 1930 in die<br />

Wohnung zurückkehrte fand er<br />

an Stelle der Haustüre ein Fenster<br />

vor und die Stuben waren<br />

ungewöhnlich hell, da die Magnolie<br />

gefällt worden war. Der<br />

Verlust der beiden geliebten<br />

Bäume machte ihm den Abschied<br />

aus der Casa Camuzzi etwas<br />

leichter. Hermann Hesse<br />

fügte sich der Heirat mit Ninon<br />

Dolbin, seiner dritten Ehefrau,<br />

und dem Einzug in die Casa<br />

Rossa, wo er bis zu seinem Tod<br />

am 8. August 1962 lebte, und<br />

schloss die Türe der Casa Camuzzi<br />

und seiner intensivsten<br />

Schaffensperiode im August<br />

1931 hinter sich zu.<br />

Literaturhinweis<br />

Volker Michels, “Meine noble<br />

Ruine”, Hermann Hesse in der<br />

Casa Camuzzi.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!