das argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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218 Ursula Rütten<br />
zialen Rolle, seiner Funktion in der Gesellschaft, seines Wohnsitzes usw. zuweist. In<br />
diesem klar definierten sozialen Netzwerk habe jeder die Möglichkeit, an begrenzt<br />
wirksamen Entscheidungen teilzunehmen. Im Endeffekt gehen also entsprechend fraktionierte<br />
- exemplarische - Meinungen in die übergreifende normative gesellschaftliche<br />
Entscheidungsfindung ein. vor allem dann. wenn der BdKJ als Moderator dieser direktdemokratischen<br />
Prozesse seinen Segen erteilt hat.<br />
Beharrt er auch nicht dogmatisch auf einem Unfehlbarkeitsdogma, so grenzt er jedoch<br />
sehr dezidiert die Zonen ab, innerhalb derer die Interessengegensätze der Individuen<br />
auszutragen sind. In diesem Sinn gewähren die jugoslawischen Kommunisten<br />
Meinungs- und Interessenpluralismus. und in diesem Sinn müssen wohl auch Parlamentswahlen<br />
verstanden werden. Eine vertikale Weiterentwicklung der Meinungen<br />
(auf der Ebene der delegierten Volksvertreter) ist schwierig, denn die Delegationen haben<br />
unmittelbar praktische und keine theoretischen Probleme zu lösen. Schließlich<br />
müssen die Selbstverwaltungs-Interessen im Einklang mit den Möglichkeiten stehen;<br />
sie dürfen also weder die wirtschaftliche noch die politische Stabilität erschüttern. In<br />
Folge dessen werden sie also letztlich dem Primat der Staats- und Parteiraison untergeordnet.<br />
Es stellt sich die Frage, ob <strong>das</strong> jugoslawische Rätesystem eher eine breite Streuung der<br />
Macht oder eine Konzentration der Parteikontrolle darstellt. Die Antwort fällt nicht<br />
leicht. Einerseits erhält tatsächlich eine breite Schicht der Bürger die Möglichkeit, Entscheidungen<br />
mitzufällen (BdKJ-Mitgliedschaft 1979: l. 775.000. entsprechend 8 % der<br />
Gesamtbevölkerung, Frauen 23 %. Jugendliche bis 27 Jahre 35 %, Durchschnittsalter<br />
35,9 Jahre). Sie bleiben zu mehr als 90 % Amateurpolitiker und behalten ihre Arbeitsplätze.<br />
Nicht nur die Arbeiterrats-, sondern auch die Delegiertensitzungen fallen in die<br />
Arbeitszeit. was von Fall zu Fall ein zusätzliches Stimulans für politische Betätigung<br />
sein dürfte. Die Parteiaktivisten müssen überdies viel mehr Überzeugungsarbeit leisten.<br />
um auch Nichtmitglieder auf ihre Linie einzuschwören. Gelingt dies den Funktlonären<br />
nicht, so sind die Beschlüsse der Arbeiter- und Bürgerräte bindend. Andererseits<br />
legte <strong>das</strong> Bestreben der gesellschaftspolitischen Avantgarde, die verschiedenen Nationalitäten<br />
des Landes auf einen einhenlichen jugoslawischen Werte- und Normenkonsens<br />
zu dirigieren, die Aufwertung des Kollektivs nahe; dies auf Kosten der gesellschaftlichen<br />
Anerkennung von Einzelinitiativen außerhalb der Selbstverwalrungsinstitutlonen.<br />
Beobachtungen aus <strong>kritische</strong>r Distanz ergeben: Der hohe revolutionäre Anspruch,<br />
dem die Jugoslawen mit ihrem Wahlsystem als einem Merkmal einer Gesellschaft "freier<br />
assoziativer Persönlichkeiten« gerecht werden wollen, steht offenbar im Widerspruch<br />
zu der Unlust vieler Arbeiter, ihre Basisorganisationen neben einem Austragungsort<br />
materieller Probleme auch als Schulungsstätte für einen politisch mündigen Bürger begreifen<br />
zu wollen; ebenso auffallend ist <strong>das</strong> vielfach geringe Engagement Jer Intellektuellen,<br />
sich zumindest für die humanistischen Intentionen einzusetzen. dIe dem System<br />
zugrundeliegen, und dieses nach außen hin zu verteidigen. Wenn also eingangs<br />
die Rede war von einem abnehmenden Vertrauen in den jugoslawischcn S,lbslvLTwaltungssozialismus,<br />
so dürften hierin - io der noch vorhandenen Sehne zwi"hen Sein.<br />
konzipiertem Sein und Bewußtsein vor dem Hintergrund eines anhaltenden sozIalen<br />
Wandels in)ugoslawien die tieferen Ursachen zu suchen sein. Ein Ph'inomen. <strong>das</strong> die<br />
Kritik leichter macht als den Glauben an dessen baldige und rechtzeitige ÜberWIndung.