Das Argument 88 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Philosophie 915<br />
in die Praxis umgesetzt. Im Gegensatz zu den Entwicklungsländern<br />
könnten Revolutionen in hochkapitalistischen Ländern nicht von kleinen<br />
Avantgarden getragen werden, sie könnten nur das Ergebnis<br />
einer Bewegung sein, die von der Mehrheit der Nation gebilligt,<br />
unterstützt und getragen wird. <strong>Das</strong> Besondere an der italienischen<br />
Situation sei gewesen, daß der italienische Marxismus aus einer breiten,<br />
nationalen Massenbasis, dem „klassenkämpferischen Antifaschismus",<br />
erwuchs und sich zum Sprecher der kulturellen Traditionen des<br />
Landes machen konnte. Togliatti hat in seinem berühmten „Testament"<br />
dieser Besonderheit Ausdruck gegeben: „Wir sind stete Verfechter<br />
der Einheit unserer Bewegung, aber diese Einheit muß in der<br />
Vielfalt konkreter politischer Positionen verwirklicht werden, die der<br />
Situation und der Entwicklungsstufe eines jeden Landes entsprechen."<br />
Die Geburtsurkunde des Polyzentrismus!<br />
Etwas anders war die Lage der französischen Kommunisten im<br />
Ausgang des zweiten Weltkrieges. Die résistance, mit starker Beteiligung<br />
der Bourgeoisie und der Bauern, sei mehr eine nationale Befreiungsbewegung<br />
als eine Klassenbewegung gewesen. „Für die theoretische<br />
Integrierung dieses Bündnisses wurde daher die kleinbürgerliche<br />
Intelligenz ausschlaggebend" (31). <strong>Das</strong> politische Selbstbewußtsein<br />
der résistance sei in den bürgerlichen Kategorien der Aufklärungsphilosophie<br />
und den Ideen der Großen Revolution befangen<br />
geblieben. Die Massenbasis der résistance — ohne adäquates Klassenbewußtsein<br />
— habe die Aktivierung demokratischer Impulse möglich<br />
gemacht, die jedoch inhaltlich unbestimmt und diffus geblieben<br />
seien. Ihre theoretische Formulierung hätten diese in der Philosophie<br />
des Existentialismus gefunden, dessen spätbürgerlichen Charakter<br />
der Autor aufzeigt. Im Endergebnis: eine Annäherung Sartres an<br />
den Marxismus und eine Annäherung französischer Marxisten an den<br />
Existentialismus.<br />
Einen völlig anderen Stellenwert haben die auf einen „sozialistischen<br />
Humanismus" sich berufenden dissidenten Strömungen in einigen<br />
Volksdemokratien. Hier habe der „marxistische Pluralismus"<br />
zu einer Preisgabe, zur Revision des Marxismus geführt, habe einer<br />
„romantischen Sehnsucht nach dem Westen" Platz gemacht. Diese<br />
„irrationale Nostalgie" müsse aber ebenfalls aus der gesellschaftlichgeschichtlichen<br />
Besonderheit dieser Länder erklärt werden. Die Länder<br />
des westlichen Osteuropa hätten an der politischen Emanzipation<br />
Westeuropas nicht teilgenommen, seien unter zaristischer, preußischer<br />
und österreichischer Herrschaft geblieben. Die Befreiung von<br />
der deutschen Fremdherrschaft und die Errichtung einer sozialistischen<br />
Gesellschaftsordnung ließen diese Sehnsucht nach „bürgerlicher<br />
Liberalität" unerfüllt. Eine besondere Erscheinungsform kultureller<br />
Entfremdung zwischen dem Mutterland des Sozialismus und seinen<br />
Tochterstaaten sei entstanden, die administrativ erfolgte Sozialisierung<br />
sei unter das Bürokratieverdikt gefallen. Demzufolge begriffen<br />
Teile der Intelligenz jener Länder Freiheit individualistisch. Ein<br />
Indiz dafür sei auch die verspätete, häufig affirmative Rezeption<br />
des französischen Existentialismus.