Das Argument 88 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Für die Einbeziehung der Naturwissenschaften 803<br />
zeigen, daß Poppers Falsifikationsauffassung den praktischen Anforderungen<br />
der Naturwissenschaft nicht entspricht; Wetzel belegt<br />
für die Sozialwissenschaften, daß die Tabuierung des Begriffs „objektiver<br />
Widerspruch" auch von bürgerlichen Wissenschaftlern nicht<br />
eingehalten wird und werden kann. Es ist dabei geradezu verblüffend,<br />
mit welcher Grobheit und welchen Verdrehungen und Fälschungen<br />
die Auseinandersetzung mit dem dialektischen Materialismus<br />
geführt wird und wie sehr dieser Abwehr-Aspekt von Poppers<br />
Philosophie ihn an Einsichten hindert. Doch auch in entgegengesetzter<br />
Hinsicht ergeben sich erstaunliche Ergebnisse: Will Popper den<br />
Wissenschaften wirklich Dienste leisten, so geraten Abwehr- und<br />
Leistungsaspekt sich ins Gehege und zwingen ihn zu einer kompliziert<br />
verdrehten Position, die Haberditzl „Materialismusähnlichkeit"<br />
getauft hat.<br />
Es erweist sich als vorteilhaft, daß (bis auf Wetzel) die genannten<br />
Autoren dieses Heftes Naturwissenschaftler sind. Die Beiträge führen<br />
eindrücklich vor, daß die Auseinandersetzung um die Sozialwissenschaften<br />
auf vielen Gebieten nur unter Einbeziehung der Naturwissenschaften<br />
geführt werden kann — und umgekehrt. Eine wirklich<br />
materialistische Wissenschaft kann nicht davon absehen, daß der<br />
Mensch auch ein Stück Natur ist, der es in seiner Arbeit letztlich mit<br />
Naturstoff zu tun hat, und man wird etwa Lorenz darin zustimmen<br />
müssen, daß eine Erkenntnistheorie auch auf naturgeschichtlicher<br />
Basis zu entwickeln ist. 7 Es gilt also, bürgerlich ideologisierten Naturwissenschaftlern<br />
das Feld streitig zu machen, das sie zu weiten<br />
Teilen beherrschen (vgl. die ungeheure Popularität von Lorenz) und<br />
eine Integration von Natur- und Sozialwissenschaften voranzutreiben,<br />
die an der wissenschaftlichen Analyse der Entwicklungsgesetze<br />
der Gesellschaft festhält. Über weite Strecken ist die Erforschung<br />
dieses Zusammenhangs noch Desiderat. Die Studentenbewegung und<br />
damit die Entwicklung marxistischer. Wissenschaft an den Hochschulen<br />
war auf einige gesellschaftswissenschaftliche Fakultäten konzentriert.<br />
Die Naturwissenschaften wurden zwar von der Seite der Indienstnahme<br />
her untersucht, vor allem die Verwendung für militärische<br />
Zwecke, sie wurden jedoch kaum selbst zum Gegenstand gemacht<br />
(abgesehen von ihrer abstrakten Negation als bürgerlich in<br />
einigen <strong>Theorie</strong>n. Die Vernachlässigung dieses Bereichs steht im umgekehrten<br />
Verhältnis zu seiner gesellschaftlichen Bedeutung.<br />
Einiges ist in dieser Zeitschrift bereits getan worden. Die Medizin<br />
ist längst an die Grenzen des Sozialen gestoßen 8 und die Ökonomie<br />
7 Ein exemplarischer Versuch der Integration natur- und sozialwissenschaftlicher<br />
Verfahren in der Psychologie ist die Analyse von K. Holzkamp:<br />
Sinnliche Erkenntnis. Historischer Ursprung und gesellschaftliche<br />
Funktion der Wahrnehmung, Frankfurt/M. 2 1974.<br />
8 Vgl. Rudolf Virchow 1849: „Die Medizin hat uns unmerklich in das<br />
soziale Gebiet geführt und uns in die Lage gebracht, jetzt selbst an die<br />
großen Fragen unserer Zeit zu stoßen." Zit. nach: H.-U. Deppe: Zum<br />
„Objekt der Medizin", in: <strong>Das</strong> <strong>Argument</strong> 50, „Kritik der bürgerlichen<br />
Sozialwissenschaften", S. 284.