Das Argument 88 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Naturgeschichte als Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie 811<br />
Unter der Formel „Rückseite des Spiegels" faßt Lorenz das Programm<br />
einer naturwissenschaftlich begründeten Erkenntnistheorie<br />
zusammen. Während der Realist nur nach außen schaut und nicht<br />
reflektiert, daß er ein Spiegel ist, und der Idealist nur in den Spiegel<br />
schaut, der Außenwelt aber den Rücken zukehrt, interessiert sich<br />
Lorenz für die Rückseite des Spiegels, den physiologischen Apparat,<br />
dessen Leistungen die Voraussetzungen für das wirkliche Erkennen<br />
der Realität sind. Die „Brillen" der menschlicher! Denk- und Anschauungsformen<br />
wie Kausalität, Raum und Zeit werden als Funktionen<br />
der neurosensorischen Organisation begriffen, die im Dienste<br />
der biologischen Arterhaltung entstanden sind, oder, wie Lorenz es<br />
kurz ausdrückt, die Erkenntnistheorie wird zur (physiologischen bzw.<br />
ethologischen) Apparatekunde. Die in der Selektion ständig neu erzwungene<br />
Anpassung des Organismus interpretiert Lorenz einfach<br />
als „Wissenserwerb". Jede Auswahl der Informationsaufnahme geht<br />
über den Mutationsmechanismus und damit völlig ungerichtet vor<br />
sich. Neben augenblicklichen Anpassungen ohne langfristige Auswirkungen<br />
(wie einsichtiges Verhalten bei höheren Tieren) gibt es<br />
auch phylogenetische Anpassungen, deren Informationen biochemisch<br />
in Nukleinsäuren gespeichert werden. Da kein Erkenntnisprozeß<br />
sich von den vorgegebenen morphologischen und physiologischen<br />
Bedingungen zu lösen vermag, kommt Lorenz zu der Schlußfolgerung,<br />
daß auch das kreativste Denken immer durch die vorgegebenen<br />
Bedingungen des phylogenetischen Gedächtnisses determiniert bleibt<br />
und es deshalb unumgänglich ist, der Analyse dieses Sachverhalts<br />
durch die Naturwissenschaften den Status einer Erkenntnistheorie<br />
zu geben.<br />
Die Grundlage jedes phylogenetischen Informationsgewinnes bildet<br />
die Reizbarkeit. Amöboide Reaktionen der Einzeller, verschiedene<br />
Formen der Kinesis und angeborene Auslösemechanismen stellen<br />
ebenso wie die arteigene Triebhandlung bereits komplizierte angeborene<br />
Verhaltensmuster dar, die aber, wie die Synchronisierung<br />
von angeborenem Auslösemfechanismus und Instinktbewegimg zeigt,<br />
einen spezifischen Systemcharakter besitzen. Lorenz sieht in ihnen<br />
die Grundlage jeder möglichen Erfahrung und billigt ihnen „apriorischen<br />
Charakter" zu, da sie biologisch gegen Modifikationen gesichert<br />
sind. Sensitivierung, Gewöhnung, Prägung, motorisches Lernen usw.<br />
sind dagegen bereits einfache adaptive Modifikationen, die zu den<br />
komplizierteren Mechanismen der tierischen Kommunikation wie<br />
Nachahmung, Neugierverhalten und Selbstexploration überleiten.<br />
Die Wahrnehmung bestimmter Reizgestalten führt sowohl zu den<br />
kognitiven Leistungen der Raumorientierung, wie sie dem Tiefensehen<br />
zugrunde liegen, als auch zur Herausbildung der Form- und<br />
Farbkonstanz in der Wahrnehmung, die einen durchschnittlichen Informationswert<br />
über einen Gegenstand auch bei dessen quantitativer<br />
Veränderung vermitteln. Die abstrahierenden Leistungen der Wahrnehmung,<br />
die häufig noch mit motorischen Vorgängen koordiniert<br />
werden, bilden ebenso wie die komplizierten tierischen Lernformen<br />
eine der Grundlagen des begrifflichen Denkens.