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Bei den Menschen sein - Diözese Rottenburg-Stuttgart

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Fast lebenslänglich –<br />

30 Jahre Fidei Donum-Priester in Argentinien<br />

von Federico Freybler<br />

Als sich im Januar 1979 das Flugzeug<br />

am <strong>Stuttgart</strong>er Flughafen vom Bo<strong>den</strong><br />

abhob, hatte ich das unbeschreibliche<br />

Gefühl im doppelten Sinne des<br />

Wortes, <strong>den</strong> Bo<strong>den</strong> unter <strong>den</strong> Füßen<br />

zu verlieren und in der Luft zu hängen.<br />

Was hatte ich mir auch zugemutet,<br />

als Fidei-Domum-Priester „auf Zeit“<br />

für fünf Jahre nach Argentinien auszuwandern!<br />

Am 4. Juli 1971 war ich in meiner<br />

Heimatstadt Aalen von Bischof<br />

Carl Joseph Leiprecht zum Priester<br />

geweiht wor<strong>den</strong>. Ich lasse mich noch<br />

besser in <strong>den</strong> geschichtlichen Kontext<br />

der <strong>Diözese</strong> einordnen, wenn man<br />

im „Schwarzen Peter“, dem alphabetischen<br />

Verzeichnis der Priesteramtskandidaten<br />

von damals, nachliest:<br />

„Birk, Brechenmacher, Broch, Eßwein,<br />

Freybler…“. Wir waren 24, zu <strong>den</strong>en<br />

auch unser „Senior“, Sieger Köder, gehörte,<br />

der in <strong>sein</strong>em bekannten Bild<br />

„Pfingsten“ das Öffnen der Fenster<br />

der Kirche zur Welt hin beschrieb. Es<br />

waren die unmittelbaren Jahre nach<br />

dem Zweiten Vatikanischen Konzil, die<br />

uns prägten. Während wir im Kurs eifrig<br />

die Vorlesungen von Hans Küng,<br />

Joseph Ratzinger, August Fink, Alfons<br />

Auer, Hermann Schelkle und anderen<br />

berühmten Professoren besuchten,<br />

machten sich schon die ersten amtsälteren<br />

Kollegen auf <strong>den</strong> Weg, als Fidei-<br />

Donum-Priester ins Ausland zu gehen:<br />

Peter Mettenleitner, Josef Maier, Gerhard<br />

Vogt, Klaus Beuerle, Karl Stetter,<br />

um nur einige zu nennen.<br />

Für mich begann mein pastoraler<br />

Dienst zunächst als Vikar in der Klosterkirche<br />

St. Martin in Ulm-Wiblingen,<br />

in St. Antonius in Unterweiler und<br />

in der St. Franziskus-Gemeinde „Am<br />

Tannenplatz“. Es waren sieben gute,<br />

fruchtbare Jahre. Ich erwähne das mit<br />

großer Dankbarkeit, weil mir diese Gemein<strong>den</strong><br />

zusammen mit meiner Heimatgemeinde<br />

Salvator in Aalen in all’<br />

<strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Jahren meiner missionarischen<br />

Tätigkeit treu zur Seite gestan<strong>den</strong><br />

sind.<br />

Aus einem Fünf-Jahres-Vertrag<br />

wurde fast „lebenslänglich“ - 30 Jahre<br />

Aufenthalt in Argentinien: zunächst 12<br />

Jahre im Nor<strong>den</strong>, in der Provinz Santiago<br />

del Estero, dann in der Diöze-<br />

se Quilmes im Großraum von Buenos<br />

Aires. Seit Juli 2003 bin ich Pfarrer in<br />

der Gemeinde „San Juan Bautista“.<br />

Mein erster Eindruck war, dass ich<br />

mit Johannes dem Täufer eines gemeinsam<br />

hatte: ich befand mich nämlich<br />

auch in einer Wüste, das heißt, in<br />

einer ausgesprochenen „Wüsten-Gegend“:<br />

Die einfachen Siedlungen sind<br />

von einem Gürtel von Fabriken umgegeben,<br />

zum Teil stillgelegte Betriebe<br />

mit halbzerfallenen Gebäu<strong>den</strong>, ein<br />

Dutzend von Eisen- und Schrott-Lagerhallen,<br />

ein großer Schlachthof, der<br />

<strong>sein</strong>e Abwasser in riesige Auffang-Becken<br />

ableitet, die nicht nur üble Gerüche<br />

verbreiten, sondern auch ein Heer<br />

von Ratten anziehen. Durch ein Flussbett<br />

fließt eine kloakenähnliche übelriechende<br />

Brühe. Die „General Belgrano“,<br />

eine vielbefahrene Durchgangsstraße,<br />

gleicht einer Mondlandschaft:<br />

ein Krater neben dem anderen, worüber<br />

sich mühselig im Schritttempo<br />

die schweren Lastfahrzeuge bewegen.<br />

Wie sich doch der Kreis schließt …: vor<br />

über zwanzig Jahren fuhr ich ein paar<br />

Mal durch dieses Gebiet und – ich erinnere<br />

mich genau, dass ich dabei gedacht<br />

hatte: Welch eine abscheuliche,<br />

hässliche Gegend! Nun – heute ist sie<br />

mein „Zuhause“.<br />

„Villas Miseria“<br />

Zum Pfarreigebiet gehört ein 26 Hektar<br />

großes Gelände, an dessen Rand<br />

Hunderte von ausgedienten Benzin-,<br />

Öl- und Teer-Tanks vor sich hinrosten.<br />

Dass das Gebiet ehemals als Müllhalde<br />

verwendet und dort Mengen von<br />

gebrauchten Batterien abgelagert<br />

wur<strong>den</strong>, trug dazu bei, dass dieses<br />

Elendsviertel als eines der am meisten<br />

kontaminierten gilt. Und <strong>den</strong>noch besetzten<br />

in <strong>den</strong> vergangenen Jahren<br />

über 600 Familien dieses Gebiet. Wo<br />

immer sie noch ein paar Quadratmeter<br />

ungenütztes Land fan<strong>den</strong>, richteten<br />

sie eine Hütte auf aus Wellblech, Brettern<br />

oder Karton.<br />

Die letzte glaubwürdige Statistik<br />

über die Entwicklung der „Villas Miseria“<br />

in Buenos Aires stammt noch<br />

aus dem Jahr 2006, wonach sich die<br />

Zahl der Villas seit dem Jahr 2001 verdreifacht<br />

hatte. In der Stadt Buenos<br />

Aires selber hatte sich die Zahl von 21<br />

„historischen“ Villas um 24 neue erhöht.<br />

Im Stadtgürtel von Buenos Aires<br />

war die Zahl von 385 (2001) auf über<br />

1000 (2006) Villas angestiegen. Man<br />

schätzte, dass die Zahl der <strong>Menschen</strong>,<br />

die im Jahr 2006 in Villas wohnten, auf<br />

1.450.000 zu veranschlagen war. Inzwischen<br />

sind jedoch weitere drei Jahre<br />

vergangen und ich fürchte, dass<br />

aktuelle Erhebungen Anlass zum Erschrecken<br />

<strong>sein</strong> wer<strong>den</strong>.<br />

Zurück aber nun zu „meiner“ Villa,<br />

zu <strong>den</strong> konkreten <strong>Menschen</strong>, ihren<br />

Schicksalen, ihrem Selbstverständnis,<br />

ihren täglichen Sorgen, ihren Hoffnungen.<br />

Ich möchte schon zugeben, dass<br />

ich es in der allerersten Zeit vorzog, lieber<br />

um die Villa herum als in sie hinein<br />

zu fahren. Villas und ihre Bewohner<br />

(Villeros) haben zunächst einmal einen<br />

negativen Ruf. Zweifellos gibt es gefährliche<br />

Villas, die man besser meidet,<br />

oder in die man sich nur mit einem<br />

gut bekannten „Insider“ hineinwagen<br />

sollte. Es ergab sich, dass sich Stefan<br />

Gonzalez als solcher anbot und mich<br />

in die Villa „einführte“.<br />

Ich fühle mich wie ein König<br />

Eines Tages wagte ich es, ihn zu fragen,<br />

was er <strong>den</strong>ke und fühle ob dieser<br />

ärmlichen Verhältnisse, in <strong>den</strong>en<br />

er zurzeit lebe: mit Frau und einem<br />

zweijährigen Sohn in einer windigen<br />

Hütte von sechs Quadratmetern. Die<br />

einzigen Möbel: ein schmales Bett,<br />

ein selbstgezimmertes Tischchen, ein<br />

kleiner Gasherd, die Kleider in Säcke<br />

verstaut, einige Lebensmittel in einem<br />

Einkaufsnetz hoch an einen Nagel gehängt,<br />

damit die Ratten nicht herankommen.<br />

<strong>Bei</strong>de ohne feste Arbeit und<br />

auch ohne Aussicht, bald eine zu bekommen.<br />

Seine Antwort hatte mich<br />

total überrascht: Anstatt mir lauthals<br />

<strong>sein</strong> Schicksal zu klagen, was ich eigentlich<br />

erwartet hatte, sagte er ruhig<br />

und bestimmt: „Ich fühle mich heute<br />

und hier wie ein König ... Wenn ich<br />

zurück<strong>den</strong>ke, wie ich mit meiner Familie<br />

vorher leben musste, nämlich<br />

auf der Straße, wo ich buchstäblich<br />

nichts besaß! Das schlimmste dabei<br />

war nicht einmal der Hunger, <strong>den</strong>n es<br />

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