Aktuelles aus der Forschung »Der Anzug hebt den Körper im Amtskörper auf« gen war erstaunlichen Wandlungen unterworfen. Von dreidimensionalen Kleidern, in Kaskaden drapiert und im wahrsten Sinne des Wortes raumgreifend, hat sie sich hin zu einer schlanken Zweidimensionalität entwickelt. Es beginnt um 1900, das Korsett wird abgeschafft. Die Stoffe werden so geschnitten, dass sie den Körper umspielen. Im 20. Jahrhunderts hat Chanel Stück für Stück Männer- in Frauenmode übersetzt. Chanel lässt die ganze Zurichtung der Weiblichkeit weg, die drei-dimensionale Überformung – tournure und cul de Paris, das Korsett, das die Taille schnürt und den Busen hebt –, zugunsten eines Kleides, das zweidimensional wird und Männermode zitiert. Aber es gab immer hyperfeminisierte Gegenbewegungen wie zum Beispiel den New Look. Die Damenmode schwankt, schematisch gesprochen, zwischen Chanel und Dior, zwischen der Garçonne à la Chanel und einer hyperfetischisierten Weiblichkeit à la Dior. Sie sprechen vom „Geheimnis der Mode“. Worin liegt es begründet? Vinken: Die Mode der Moderne ist immer Cross-Dressing. Sie nimmt beim anderen Geschlecht, bei einer anderen Klasse oder einer anderen Kultur Anleihen auf. Die neuen Beine der Frauen sind ein schönes Beispiel für Cross-Dressing. Mode ist die Zersetzung jeglicher Behauptung von Eigentlichkeit. Aber ihr wirkliches Geheimnis ist ihre List: Sie tut nicht, was sie zu tun vorgibt. Ziehen sich mit der Unisex-Mode denn beide Geschlechter gleich an? Frauen wie Männer tragen Jeans und T-Shirt oder im Berufsleben auch Anzug. Vinken: Die Unisex-Mode läuft, wenn man genau hinschaut, unter einer besonders falschen Flagge. Denn tatsächlich ist dabei die erotische Zone der Männer- auf die Frauenmode übertragen worden. Beine und Po, die Frauen bis dahin unter langen Röcken versteckt haben, werden durch die Hosen modelliert. Die Unisex-Mode führt also de facto zu einer Durcherotisierung des weiblichen Körpers und damit nicht zur Verwischung, sondern zur Verschärfung des Gegensatzes männlich/weiblich. Die Business-Kostüme und -Anzüge, zum Beispiel von Jil Sander, die in der Übertragung des Anzugs in die Damenmode sicherlich führend war, umspielen den Körper sehr viel schmeichelnder und silhouettieren ihn enganliegender, als dies die Anzüge für Männer im Normalfall tun. Der männliche Anzug ist ja mit seiner Unterfütterung ein Konstrukt, das den Körper schematisch überformt und in seiner Partikularität verschleift. Dieses Verschleifen des weiblichen Körpers, diese neutralisierende Funktion des Anzugs hat es in der Frauenmode nie gegeben. Wie wird sich die Mode weiterentwickeln? Vinken: Von Friedrich Nietzsche bis Adolf Loos haben alle Modetheoretiker eine Modedämmerung vorausgesagt: Wenn wir endlich in gleichberechtigten Zeiten leben, Frauen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt und wir keine parasitären Klassen mehr haben, dann gibt es keine Moden mehr. Dieser Diskurs der Moderne stigmatisierte die Mode als weibisch, oberflächlich-frivol, als Zurschaustellung des Fleisches auf dem Heirats- oder Sexmarkt – dem einzigen Markt, der den Frauen zugänglich sei – im Gegensatz zum modeindifferenten, reifen Geistesmenschen, der selbstredend männlichen Geschlechtes sein sollte. Nur ist eines sicher: Zu dieser Modedämmerung ist es nicht gekommen. Mode gibt es noch, unbeeindruckt der angeführten sozialpolitischen Kriterien. Sie trennt nach wie vor in ein modisches und ein a-modisches Geschlecht qua markierter versus unmarkierter Sexualität. Daraus kann man schließen, dass wir noch immer starke Oligarchien haben und von einer Gleichberechtigung der Geschlechter im Zugang zu Geld, Macht und Autorität meilenweit entfernt sind, und das mag stimmen. Aber man kann die Geschichte der Mode auch etwas anders erzählen: Die weibliche Mode zersetzt das transzendierende Prinzip, das der Anzug behauptet. Kunstvoll setzt sie auf die Eleganz und Schönheit des Körpers im Hier und Jetzt. Sie gibt ihm Form. Sie versucht nicht, wie der Anzug, etwas anderes – Macht, Reichtum, Autorität – zu behaupten. Dadurch tritt hinter seiner sozialen Überformung der Körper in seiner Einmaligkeit und seiner Schönheit, in seiner Verletzlichkeit und Hinfälligkeit hervor und wird in dem ihm eigenen Wert sichtbar. Das erscheint mir viel reizender, als die Körper den Korporationen zu unterwerfen und in ihren Funktionen aufgehen zu lassen. Also sollten Frauen den Anzug lieber im Schrank lassen? Vinken: Ich meine, dass es nicht darum gehen kann, die Öffentlichkeit von Weiblichkeit zu reinigen und dieses Ablegen alles Weiblichen zur Bedingung des Zugangs zu Autorität, Geld und Macht zu machen. Es gilt, eine institutionelle Sphäre zu schaffen, die Weiblichkeit nicht nur toleriert, sondern ihr Raum gibt, weil sie sie schätzt. Das ist eine Frage von kulturellen, lebensweltlichen Standards, die nicht dem geschäftlichen Funktionieren einer Männerwelt unterworfen sein müssen. Einer Männerwelt, die ihrerseits alles andere als glücklich sein dürfte mit dieser Art von Privilegierung. Interview: Nicola Holzapfel Prof. Dr. Barbara Vinken ist Inhaberin des Lehrstuhls für Romanische Philologie und Allgemeine Literaturwissenschaft an der LMU. Ihr Buch Angezogen erschien bei Klett-Cotta. Nummer 2 / 2013 <strong>Einsichten</strong> – Das Forschungsmagazin 11
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