Einsichten - Ludwig-Maximilians-Universität München
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Die digitale Gesellschaft: Die permanente Revolution<br />
Anfüttern<br />
mit der<br />
Vollversion<br />
mas Hess hatte dieses Ergebnis nicht erwartet:<br />
„Ich hatte intuitiv gedacht, es wäre<br />
anders herum, dass man am besten mit einer<br />
reduzierten Version die Leute anfüttert.“<br />
Neben der willingness to pay interessiert<br />
sich Hess für ein anderes zentrales Thema<br />
der digitalen Wirtschaft: Unsicherheit. Wer<br />
etwas online kauft – auch Musikdateien oder<br />
Programme –, hat eine weit größere physische<br />
und psychologische Distanz zum Verkäufer<br />
als ein Kunde, der im Schuhgeschäft<br />
die Winterstiefel erst einmal anprobiert.<br />
Diese Distanz sorgt beim Kunden für eine<br />
Unsicherheit über die Frage, ob er der Firma<br />
trauen kann, der er im Internet begegnet.<br />
Versandhändler versuchen Unsicherheit<br />
schon lange mit Umtausch- und „Geldzurück“-Garantien<br />
zu überwinden. Ein<br />
Online-Versandhändler, der Kleidungsstücke<br />
nach dem ersten Anprobieren wieder<br />
zurücknimmt, steht hier jedoch anders da<br />
als eine Firma, die Musik oder Software vertreibt:<br />
Von Pullovern oder Hosen lassen sich<br />
keine Kopien erstellen. Bei digitalen Produkten<br />
sieht das anders aus. Thomas Hess empfiehlt<br />
dennoch auch den Anbietern digitaler<br />
Waren, über „Geld-zurück“-Garantien nachzudenken.<br />
Studien, die auch an seinem Institut<br />
erstellt wurden, zeigen deutlich: Solche<br />
Zusicherungen wirken der Unsicherheit der<br />
Kunden entgegen und schaffen Vertrauen.<br />
Natürlich müsse zum Beispiel bei Musik-<br />
Files technisch dafür gesorgt werden, dass<br />
die Kunden sie nach einer bestimmten Zeit<br />
nicht mehr abspielen können, wenn sie sie<br />
nicht bezahlen. Technisch sei das machbar,<br />
sagt Hess und fährt fort: „Sicherlich lassen<br />
sich solche technischen Sicherungen immer<br />
auch knacken – aber der Aufwand, den<br />
jemand dafür betreiben müsste, lässt sich so<br />
hoch treiben, dass sich das Geld-zurück-<br />
Angebot für den Anbieter insgesamt lohnt.“<br />
dass die Digitalisierung die Medien- und<br />
Unterhaltungsbranche weiter umwälzen<br />
wird, darin ist sich Hess sicher. Für andere<br />
Lebensbereiche hält er sich mit Aussagen<br />
zurück. Nur eines hält er für ausgemacht:<br />
Dass Rechner, Smartphones, Kameras oder<br />
Abspielgeräte immer enger in einem „Internet<br />
der Dinge“ miteinander vernetzt werden.<br />
Der Austausch von Bildern, Musik, Daten<br />
werde immer enger. Visionen vom „intelligenten<br />
Haushalt“, in dem der Kühlschrank<br />
selbsttätig frische Milch im Supermarkt<br />
ordert, weil er erkennt, dass die letzte Milchtüte<br />
fast leer ist, hält Hess aber für Spekulation:<br />
„Man darf technische Machbarkeit<br />
nicht mit Akzeptanz in Unternehmen und<br />
Gesellschaft verwechseln.“ Der intelligente<br />
Kühlschrank sei technisch sicher möglich,<br />
„aber als Ökonom würde ich sagen, es gibt<br />
wenige Anreize dafür. Das ist so teuer, bis<br />
das funktioniert, das zahlen Sie nie.“<br />
Durchgesetzt haben sich längst die technischen<br />
Möglichkeiten, Kunden zu durchleuchten.<br />
Das werde weiter perfektioniert<br />
werden, glaubt Hess. Als Angehöriger des<br />
Jahrgangs 1967 kann er sich noch an die<br />
breiten Proteste gegen die Volkszählung<br />
1987 erinnern. Damals gab es Boykottaufrufe,<br />
weil der Staat bei den Bürgern eine<br />
Handvoll Daten abgefragt hat. Heute können<br />
Online-Versandhändler, Suchmaschinenbetreiber<br />
und Telekommunikationsanbieter<br />
Profile anlegen, aus denen sich mitunter auf<br />
die Sekunde und den Meter genau ablesen<br />
lässt, was Kunden wann wo gemacht haben.<br />
Hess glaubt schon aus rein technischen<br />
Gründen: „Das lässt sich nicht mehr zurückdrehen.“<br />
Und als Ökonom ergänzt er: „Es<br />
gibt zwar bei vielen ein gewisses Unbehagen.<br />
Aber offenbar überwiegen die Vorteile,<br />
die viele Bürger sehen.“<br />
Untersuchungen haben gezeigt: Wenn<br />
Online-Händler das Kaufverhalten ihrer<br />
Kunden auswerten und daraus Vorschläge<br />
für neue Bestellungen destillieren, geht rund<br />
ein Drittel der Käufer auf diese Vorschläge<br />
ein. „Die Leute ziehen also einen Nutzen aus<br />
diesen Vorschlägen. Und damit ziehen sie<br />
einen Nutzen daraus, dass ihre Daten verwertet<br />
werden“, stellt Hess trocken fest und<br />
ergänzt: „Die Durchleuchtbarkeit ist wohl<br />
der Preis, den wir für manches bezahlen.“<br />
Heißt das auch, dass die Dominanz der größten<br />
Datensammler – Google, Amazon oder<br />
Facebook – sich nicht mehr zurückdrehen<br />
lässt? Bei dieser Frage ist Hess vorsichtiger.<br />
Die „disruptiven Technologiesprünge“, die<br />
einstige Superstars der digitalen Welt wie<br />
Commodore oder Compuserve hinweggefegt<br />
haben, könnten auch heutigen Platzhirschen<br />
das Genick brechen. Im Handel sind<br />
die Gewinnmargen fast immer schmal, das<br />
gelte auch für den Branchenriesen Amazon,<br />
meint Hess. „Und gerade wo die Margen so<br />
schwach sind, gibt es für niemanden eine<br />
Überlebensgarantie.“ Auch die Übermacht<br />
Googles hält Hess nicht für in Stein gemeißelt:<br />
„Wenn einer mit einem wirklich klugen,<br />
besseren Suchalgorithmus käme, wäre das<br />
für Google ein Problem.“•<br />
Prof. Dr. Thomas Hess<br />
ist Direktor des Instituts für Wirtschaftsinformatik und<br />
Neue Medien an der Fakultät für Betriebswirtschaft der<br />
LMU. Hess, Jahrgang 1967, promovierte an der <strong>Universität</strong><br />
St. Gallen und habilitierte sich an der <strong>Universität</strong> Göttingen.<br />
Er lehrte und forschte an den <strong>Universität</strong>en Göttingen und<br />
Augsburg sowie an der Nanyang University of Singapore,<br />
bevor er 2001 als Lehrstuhlinhaber nach <strong>München</strong> kam.<br />
Daneben ist er Mitglied des Boards des Center for Digital<br />
Technology and Management von LMU und TU <strong>München</strong>.<br />
18 <strong>Einsichten</strong> – Das Forschungsmagazin Nummer 2 / 2013