Magazin für lovecraft'sche Literatur und Phantastik - Luzifer Verlag
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Fazit:<br />
Diese Geschichte ist weniger phantastischer Natur als eine Parabel, die über die Jahre, seit ihrer<br />
Entstehung, nicht ein Wort an Aktualität verloren hat. Daudet hat hier eine Story vorgelegt, die<br />
zwar kurz aber unterhaltsam ist; nachdenklich stimmt <strong>und</strong> ohne Weiteres auch auf die Welt<br />
jenseits des christlichen Wirkungskreises angewandt werden kann.<br />
Imaginatio Lux<br />
Neun Elf<br />
von Stefan Melneczuk<br />
(Short Story aus dem Anhang des Romans RABENSTADT)<br />
Großer Gott! Das war alles, was meine Frau damals gesagt hat. Ich höre diese Worte wieder <strong>und</strong><br />
wieder – ein Echo, das kein Ende nimmt. Keine Ahnung, wie oft dieser Satz am 11. September<br />
2001 zu hören war, r<strong>und</strong> um den Erdball, an jenem Tag, als das neue Jahrtausend innerhalb<br />
weniger Minuten seine Unschuld <strong>und</strong> unser Koordinatensystem für die nächsten Jahre seine X-<br />
Achse verlor. Ich bin mir sicher, er wurde damals in diversen Sprachen gesagt, geflüstert <strong>und</strong><br />
gerufen – an jedem Ort, an dem ein Fernseher, ein Computer oder ein Radio in greifbarer Nähe<br />
stand. Großer Gott! Das hat es auf den Punkt gebracht, überall auf der Welt. Ich für meinen Teil<br />
habe diesen Satz damals nur gedacht – in einem Großraumbüro, an meinem Schreibtisch, als<br />
Mann in der Menge, den Blick starr auf einen Bildschirm gerichtet, der über allen Arbeitsplätzen<br />
an der Decke hing <strong>und</strong> sich mit immer mehr verheerenden CNN-Bildern füllte.<br />
Ich bin in der Firma keine große Nummer <strong>und</strong> gehöre zum Fußvolk, sodass es damals keine<br />
Glastür gab, die ich hinter mir hätte schließen können, um das alles zu begreifen. So stand ich<br />
einfach nur da, an jenem 11. September, mit einem warmen Kaffeebecher in den Händen, <strong>und</strong> sah<br />
mit an, wie das zweite Flugzeug in den Südturm einschlug. Dann hörte ich nebenan einen<br />
Kollegen telefonieren. Er bat seine Frau hinter vorgehaltener Hand, sofort zweitausend Liter<br />
Heizöl zu bestellen. Ich glaube, es gibt Krieg. Ich komme heute früher nach Hause. Einkaufen<br />
gehen. Unbedingt! Er bemühte sich, ganz leise zu sprechen, doch ich verstand jedes Wort.<br />
Sechs<strong>und</strong>fünfzig Minuten später sahen wir ihn dann fallen, den Südturm. Und mit ihm alles, was<br />
wir bislang an Tagen erlebt hatten, die – wie jener damals – Geschichte schrieben.<br />
Das ging mir durch den Kopf, als meine Frau <strong>und</strong> ich acht Jahre später vor der riesigen<br />
Fensterfront standen, um das Baufeld jenseits der Sperrzäune zu betrachten. Auf jenem Fleck<br />
Erde, der Gro<strong>und</strong> Zero heißt. Und sollten auch Sie eines Tages mal nach New York City kommen,<br />
dann gehen Sie ins World Financial Center an der West Street in Manhattan, nehmen die schmalen<br />
Rolltreppen <strong>und</strong> halten sich dann immer rechts. Nach einigen Metern werden Sie die Fenster<br />
sehen, die Ihnen nach Westen hin einen Blick auf den ganzen Schlamassel gestatten. Gut möglich,<br />
dass die vielen Baugruben dann bereits Geschichte sind, ebenso die Stahlgerüste <strong>und</strong> Kranwagen,<br />
in denen nasse US-Flaggen um die Wette wehten, als meine Frau <strong>und</strong> ich am Fenster standen –<br />
damals, an einem verregneten Nachmittag Ende November. Gut möglich, dass die Erben des<br />
World Trade Centers bei Ihrem Besuch längst stehen <strong>und</strong> alle Mühen auf dem steinigen Weg<br />
dorthin Geschichte sind.<br />
Damals allerdings waren die Bauarbeiten noch voll im Gange <strong>und</strong> ließen mit Macht erahnen, mit