CIV NRW - Cochlear Implant Verband Nordrhein-Westfalen e.V.
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Kolumne<br />
Diese Rechnung darf nicht aufgehen!<br />
Wir alle wissen, wie schwer es ist, nachzufragen,<br />
wenn man nicht verstanden hat. Und<br />
wir alle kennen zu Genüge Situationen, in<br />
denen wir lieber so getan haben, als hätten<br />
wir … Situationen, in denen man am liebsten<br />
im Erdboden versinken würde, Situationen,<br />
die uns in den Schlaf (ver-)folgen („Was wollte<br />
der Herr XY heute Nachmittag von mir?“).<br />
Und immer dieses Bauchweh, die Momente,<br />
in denen die inneren Konflikte („Hätte ich<br />
doch nur gesagt, dass ich das nicht richtig<br />
verstanden habe.“) beginnen, sich festigen und nach und nach am Selbstwert<br />
nagen („Wenn ich jetzt sage, dass ich es nicht verstanden habe, schauen<br />
sie wieder so genervt.“).<br />
Hin bis zum Rückzug. Was sollen wir auch schon bei dem Nachbarn auf<br />
der Geburtstagsparty, wo wir doch da überhaupt nix verstehen. Ob ich nun<br />
dabei bin oder nicht, was spielt das schon für eine Rolle?<br />
Und womit hat es alles angefangen? Mit dem Sich-nicht-trauen? Mit dem<br />
Nicht-wahr-haben- wollen, dass es nicht mehr so ist wie vorher? Mit den<br />
schlechten Erfahrungen?<br />
Wir glauben, wir machen Erfahrungen, aber es sind die Erfahrungen, die<br />
uns machen.<br />
Dieses Zitat habe ich an der Wand in einem Schnellimbiss gefunden. Es hat<br />
mich nicht mehr los gelassen.<br />
Wenn das so ist, dann müssen wir gute Erfahrungen machen. Mit uns, mit<br />
anderen Schwerhörigen, mit Situationen, in denen wir uns trauen, zu sagen,<br />
dass wir etwas nicht verstanden haben und dann merken, dass das gut ist,<br />
nachzufragen, weil es ein Kompliment ist. Es ist ein Kompliment, dem anderen<br />
zu sagen: „Du, ich habe nicht verstanden, aber wenn du das noch<br />
mal wiederholst und mich dabei anschaust, dann kann ich dich verstehen,<br />
das wäre mir wichtig!“ – Ja, das ist doch ein Kompliment: Ich möchte dich<br />
verstehen.<br />
Aber er machte mir das Kompliment nicht. Er saß da<br />
und ich merkte, dass er nicht verstanden hatte, was ich<br />
gesagt habe. Darauf angesprochen, reagierte er ruhig<br />
und gelassen: „Ach, wissen Sie, Herr Dieler, wenn ich<br />
was nicht verstehe, dann ist das für mich okay. Nachfragen<br />
ist mir unangenehm, dann gucken immer alle<br />
so komisch.“ Ich war entsetzt. „Aber ich würde mich<br />
freuen, wenn du fragst, ich möchte, dass du das, was<br />
ich dir sage, verstehst. Schau, ich bin selbst schwerhörig,<br />
mich kannst du doch fragen. Und außerdem,<br />
wenn ich merke, dass du mich nicht verstehst und ich<br />
dich dabei erwische, das ist doch auch peinlich.“ „Ja,“<br />
entgegnete er, „das ist auch peinlich, aber das passiert<br />
doch nur zweimal im Unterricht. Fragen müsste ich<br />
mindestens zwanzig Mal. Dann doch lieber zwei Mal<br />
peinlich als zwanzig Mal peinlich, oder?“<br />
In diesem Moment wurde mir klar, dass diese Rechnung<br />
– natürlich nur aus Sicht des schwerhörigen<br />
Jungen, der sicher auch seine Erfahrungen gemacht,<br />
äh, Entschuldigung, der sicherlich auch von seinen<br />
Erfahrungen gemacht wurde – Sinn machte. Ja, aus<br />
Sicht des Betroffenen macht so eine Rechnung vielleicht<br />
Sinn. Aber bitte nur auf den ersten Blick.<br />
Lieber Schüler, der du in meinem Unterricht warst:<br />
Weil ich deinen Namen nicht verraten möchte und<br />
weil du nicht der einzige bist, schreibe ich:<br />
Lieber Schüler, und stellvertretend auch für die Damen:<br />
liebe Schülerin, ich wünsche dir viele Erfahrungen, die<br />
dich machen. Erfahrungen, die an deinem Selbstwert<br />
nagen, ja, weil es sie geben wird. Aber ich wünsche dir<br />
auch noch viel mehr Erfahrungen, die dir Mut machen,<br />
nachzufragen, Erfahrungen, die dich stärken, weil es<br />
gut ist, nachzufragen: „ … ich möchte dich verstehen,<br />
kannst du bitte ... „ Ja, ich wünsche dir diese Erfahrungen,<br />
ich wünsche dir diesen Mut. Nur Mut lässt Angst verhungern!<br />
Du wirst sehen: In einer Selbsthilfegruppe<br />
zum Beispiel schenken sie dir diesen Mut. Warum du<br />
hin gehen solltest? Weil deine Rechnung mit den Peinlichkeiten<br />
(zwei sind besser als zwanzig) nicht aufgehen<br />
darf. Weil es schön ist, zu verstehen. Und weil es<br />
schön ist, Komplimente zu machen. Probier´s mal …<br />
Wenn er mir doch nur das Kompliment gemacht hätte, der Schüler, den<br />
ich neulich im Unterricht hatte. Schwerhörig. In einer Klasse mit Schwerhörigen.<br />
In einer Schule für Schwerhörige. Mit mir als Dozenten – selbst<br />
schwerhörig.<br />
Dein Peter<br />
22 |<strong>CIV</strong> <strong>NRW</strong> News | Ausgabe 2/2013