CIV NRW - Cochlear Implant Verband Nordrhein-Westfalen e.V.
CIV NRW - Cochlear Implant Verband Nordrhein-Westfalen e.V.
CIV NRW - Cochlear Implant Verband Nordrhein-Westfalen e.V.
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Seminare<br />
Abenteuer des Lesens<br />
Seit nunmehr 12 Jahren reisen CI-Trägerinnen und CI-Träger von Nah und<br />
Fern an, um im Paderborner Land über Bücher zu diskutieren. Und das<br />
geht? Ja, das geht heute sehr gut. Die Technik ermöglicht heute ohne<br />
große Probleme hochgradig schwerhörigen und ertaubten Menschen<br />
die Teilnahme. Für sie (vielleicht aber auch für die einen oder anderen<br />
Teilnehmer/-innen, die sich noch nicht ganz auf ihr neues CI-Hören verlassen<br />
konnten) schrieben zwei junge Frauen wörtlich alles Gesprochene auf ihrem<br />
Laptop mit, was dann auf eine Leinwand projiziert wurde - auch hier<br />
ein Quantensprung im Vergleich zum früher üblichen „Hellschreiber“, an<br />
dem sich hilfsbereite Hörende im Schweiße ihres Angesichts plagten, um<br />
das Wichtigste mit der Hand auf Folien zu schreiben.<br />
Ich war sehr gespannt auf das neue Tagungshaus in Paderborn, das ich<br />
noch nicht kannte. Würde die Induktionsanlage funktionieren? Denn diese<br />
brauchte ich unbedingt zum Verstehen. Wie würde ich die langjährige, verdiente<br />
Seminarleiterin, Frau Dr. Antje Telgenbüscher, verstehen? Sie hatte<br />
die meisten bisherigen Seminare geleitet, ich kannte sie seit Jahren. Und<br />
doch - als Langzeit-Ertaubter (1950 bis 1987) ist man immer ein wenig unsicher.<br />
Aber schon bald stellte ich fest: Frau Dr. Telgenbüscher sprach sehr<br />
deutlich, sehr gut verständlich. Ich musste gar nicht auf das Mitgeschriebene<br />
achten. Jedes Wort kam auch bei mir an! Das war und ist immer<br />
wieder ein Glückserlebnis, wie es eben nur jemand haben kann, der fast<br />
sein ganzes Leben lang taub war!<br />
Als Seminarthema hatte man den „Humor in der Literatur“ gewählt. Kurz<br />
vor Weihnachten erhielten alle Teilnehmer das Programm für 2013. Drei<br />
Bücher wurden uns zur Seminarvorbereitung empfohlen:<br />
1. Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand (Jonas Jonasson)<br />
2. Die Asche meiner Mutter (Frank McCourt)<br />
3. Tschick (Wolfgang Herrndorf).<br />
Schon am Freitagabend wurde das erste Buch besprochen. Ich hatte mich<br />
anfangs begeistert darauf gestürzt: Was für eine tolle Idee, ein uralter<br />
Mann steigt aus dem Fenster des Altersheims (glücklicherweise im Erdgeschoss!)<br />
und reißt aus! Eine herrliche Satire oder eine Klamotte, bei der<br />
man immer wieder herzlich lachen kann!? Aber ... was kam dann heraus?<br />
Eine Art Road Movie, nicht nur durch die schwedischen Urwälder, sondern<br />
bis nach China und Moskau, Begegnungen mit Stalin, Mao Tsetung, Pol Pot<br />
und anderen unheimlichen Größen der Weltgeschichte.<br />
Ganz anders das zweite (und zum Schluss auch das dritte) Buch: „Die<br />
Asche meiner Mutter“ von Frank McCourt. Eine tief ernste, für sensible<br />
Leser fast unerträglich harte biografische Erzählung aus dem bitterarmen<br />
Irland der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Der Autor erzählt sein<br />
eigenes Schicksal, aber ohne jede Wehleidigkeit und Anklage. In seiner originellen,<br />
oft naiven Kindersprache verlieren selbst die größten Malaisen ihre<br />
Bedrohlichkeit. Der kleine Frank kennt die Welt ja nicht anders. Er plaudert<br />
fröhlich drauflos und nimmt alles hin, wie es<br />
ist und wie er es anders gar nicht kennt. Er lebt ein<br />
fröhliches Kinderdasein und ist nicht unglücklich.<br />
Oder etwa doch? ... Humor ist, wenn man trotzdem<br />
lacht?!<br />
Als letztes Buch diskutierten wir am Samstagnachmittag<br />
„Tschick“ von Wolfgang Herrndorf. Es<br />
geht um Maik und Tschick, zwei vierzehnjährige<br />
Jungen. Maik stammt aus einem wohlhabenden Elternhaus,<br />
aber die Mutter ist alkoholkrank und der<br />
Vater geht eigene Wege. Tschick heißt eigentlich<br />
Andrej Tschichachtschow und lebt in einem Asylantenhaus.<br />
Irgendwie hat er es von der Förderschule<br />
aufs Gymnasium geschafft – dort freundet er sich<br />
mit Maik an. Eines Tages „knacken“ sie einen uralten<br />
Lada und fahren mit ihm kreuz und quer durch<br />
ein ihnen ganz unbekanntes Deutschland, das man<br />
auch als Leser kaum identifizieren kann, denn sie<br />
fahren immer auf Nebenstraßen und Feldwegen.<br />
Unmöglich zu schildern, was sie alles mit dem gestohlenen<br />
Auto erleben. Den Stil, die Jugendsprache,<br />
in der das geschrieben ist, muss man selber lesen.<br />
Es ist keine Zeile langweilig!<br />
Ich habe das Buch „verschlungen“ - was mir schon<br />
länger nicht mehr passiert ist.<br />
Last but not least: Am Sonntagmorgen wurden einzelne<br />
Gedichte diskutiert. Der Bogen spannte sich<br />
von Wilhelm Busch („Es sitzt ein Vogel auf dem<br />
Leim ...“) über Christian Morgenstern, Erich Kästner<br />
und andere bis hin zu einem von Frau Dr. Telgenbüscher<br />
persönlich interpretierten Gedicht des der<br />
Stadt Paderborn besonders verbundenen Dichters<br />
Günter Eich.<br />
Großen Dank haben die Veranstalter verdient, vor<br />
allem Heinz und Christel Lemmen. Wie Heinz es immer<br />
wieder fertigbringt, so viele Teilnehmer zusammenzutrommeln,<br />
grenzt ans Wunderbare. Seine Frau<br />
Christel gibt ihm dabei die nötige Unterstützung!<br />
Frau Dr. Telgenbüscher hat es wiederum verstanden,<br />
uns neue Lektüre nahezubringen und sie uns<br />
mit ihrer klaren Stimme verständlich zu machen,<br />
uns hineinzunehmen in die Welt der Literatur, uns<br />
daran teilhaben zu lassen. Jenni und ihre Schwester<br />
am Laptop haben auch wieder ein Lob verdient<br />
für ihren unermüdlichen Einsatz. Sie ermöglichten<br />
|auf taube Ohren stoßen| in ein Ohr hinein und aus dem anderen wieder hinaus |In meinen Ohren klingt das verdächtig nach ’nein’ jemandem<br />
34 |<strong>CIV</strong> <strong>NRW</strong> News | Ausgabe 2/2013