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Das Verstandene Leben - Ernst Michael Lange

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geschrieben habe, dass Personen das-und-das erstreben und nach dem-und-dem fragen. Aber<br />

die so beiläufig unterstellte vorläufige Erklärung genügt natürlich nicht. Indem wir sprechen<br />

und handeln können, können wir uns an normativen Praktiken beteiligen. Nicht erst im<br />

Handeln nach Moral und Recht, schon im Sprechen, im Gebrauch der Sprache, sind wir an<br />

Normen gebunden, in diesem Fall an Kriterien der Richtigkeit und Falschheit. Was wir sagen<br />

und tun, indem wir sprechen, wird nicht nur von anderen nach Richtigkeit oder Falschheit<br />

(grundlegend: Verständlichkeit oder Unverständlichkeit) beurteilt oder bewertet, sondern<br />

auch von uns selbst. Wir sind an Normen gebunden, indem wir uns selbst an sie binden – im<br />

Sprechen handeln wir nicht nur regelmäßig, sondern, wie Wittgenstein ausführlich dargelegt<br />

und erörtert hat, wir folgen Regeln. 12<br />

Wittgenstein geht von ganz einfachen Lernsituationen aus – einem Schüler wird beigebracht,<br />

eine arithmetische Reihe richtig fortzusetzen(vgl. PU Abschnitt 143). Dabei kann es sich<br />

zunächst um das Erlernen/Lehren der Reihe der natürlichen Zahlen handeln und die Aufgabe<br />

im Nachschreiben der Zahlzeichen. Dem Schüler kann zunächst sogar die Hand geführt<br />

werden müssen. Dann aber räumt Wittgenstein mit der vernünftigen Resignation des<br />

Pädagogen 13 – er hat bekanntlich auch als Volksschullehrer gearbeitet – etwas ein, was von<br />

seinen philosophischen Auslegern wenig beachtet wird: „dann aber wird die Möglichkeit der<br />

Verständigung daran hängen, dass er nun selbständig weiter schreibt.“ Die Bereitschaft zum<br />

selbständigen Fortsetzen ist ein Beitrag, den der Schüler leisten muss und an dieser<br />

Bereitschaft hängt „die Möglichkeit der Verständigung“. Erst einem derart bereiten Schüler<br />

kann beigebracht werden, wie fortzusetzen richtig ist und wie fortzusetzen falsch wäre. D.h.<br />

aber, der Schüler muss die Regel, die ihm beigebracht werden soll, selbst anwenden wollen –<br />

er muss sich selbst an die Regel und damit an Kriterien der Richtigkeit und Falschheit (Normen<br />

des Urteilens) binden. Alle erworbenen Fähigkeiten, in deren Erwerb man unterrichtet<br />

werden konnte oder hätte unterrichtet werden können, sind an solche objektiven, weil<br />

geteilten oder der Teilung durch mehrere fähigen Kriterien der Richtigkeit und Falschheit gebunden<br />

(weil es ohne sie keine Kontrolle der Lernfortschritte geben könnte). (Einige<br />

Fähigkeiten werden im Kontrast dazu durch natürliche Prozesse des Wachstums und Reifens<br />

erworben – z.B. die Fähigkeit weiblicher Lebewesen, Nachkommen zu gebären –, für diese<br />

gibt es keine erlernbaren Kriterien des Richtig Machens. Aber sehr viele Fähigkeiten, über<br />

die erwachsene Personen verfügen, sind derart, dass sie hätten gelehrt werden können, auch<br />

wenn sie faktisch vielleicht überwiegend durch spontane Nachahmung erworben wurden.)<br />

Die Überlegung zu erworbenen Fähigkeiten, die hätten gelernt/gelehrt werden können und<br />

deshalb an objektive Kriterien der Richtigkeit und Falschheit gebunden sind, führt dazu, den<br />

Begriff der Person so weiter zu bestimmen, dass zu sagen ist: Personen sind wesentlich sich<br />

selbst bewertende, sich selbst an Normen bindende Lebewesen.<br />

In der neueren philosophischen Diskussion ist dieser Personbegriff durch Harry Frankfurt<br />

wieder gewonnen worden. 14 Frankfurt geht im Blick auf Personen von zwei Stufen von<br />

Wünschen aus – Wünsche 1. Stufe, etwas zu tun oder zu haben, und Wünsche 2. Stufe, die<br />

12 Vgl. zentral PU Abschnitte 142-243. Wittgensteins Absicht in seinen Erörterungen über Regeln Befolgen ist<br />

freilich nicht nur die Klärung des Begriffs ‚Regelfolgen’, sondern diese nur und nur soweit, wie es zur Kritik an<br />

philosophischen Illusionen über Regeln Befolgen erforderlich ist. Vgl. meinen Kommentar zu den PU,<br />

Paderborn 1998 (UTB 2055), 225-260.<br />

13 Sie hat nach der Auffassung Sören Kierkegaards schon eine Rolle gespielt bei der Charakterisierung seiner<br />

Kunst als Hebammenkunst durch Sokrates – vgl. z.B. Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf<br />

Sokrates, Übers. E. Hirsch, Düsseldorf 1961, 197; Philosophische Brocken, Übers. E. Hirsch, Düsseldorf 1952, 7<br />

f.<br />

14 Vgl. Harry Frankfurt, ‚Willensfreiheit und der Begriff der Person’ (engl. 1968), in: P. Bieri (Hrsg.):<br />

Analytische Philosophie des Geistes, 2. verbesserte Auflage Bodenheim 1993, 287-302. - Ein nicht wie bei<br />

Frankfurt beschränkter analoger Begriff der Person wird auch entwickelt von <strong>Ernst</strong> Tugendhat: Selbstbewußtsein<br />

und Selbstbestimmung, Frankfurt am Main 1979 u. ö. Neuere Untersuchungen zeigen, dass er auch in der<br />

rationalen Psychologie, die von Kants Moralphilosophie unterstellt wird, impliziert ist und bis auf Platon<br />

zurückgeht - vgl. Christine M. Korsgaard: The Sources of Normativity, Cambridge UP 1996, 3.2.1 ff.<br />

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