Das Verstandene Leben - Ernst Michael Lange
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echtfinden zu können. Der darin liegenden Unerschöpflichkeit von erworbenen Fähigkeiten<br />
(im Unterschied z.B. von Programmen, nach denen elektronische Rechenmaschinen arbeiten)<br />
kann keine Explikation zuvorkommen wollen.<br />
Wir wissen in – auch großen – praktischen Fragen oft, was (für uns) gut ist, ohne es auf<br />
Anhieb sagen und begründen zu können. Und doch ist, was wir aufgrund solcher Einsicht<br />
tun, verständlich und wir können auch die Gründe dafür verstehen (und dann auch ausdrücken),<br />
wenn wir uns auf sie besonnen haben. Hinsichtlich der <strong>Leben</strong>ssinnfrage kann man das,<br />
wenn überhaupt, gemeinhin nur bezüglich der großen <strong>Leben</strong>sentscheidungen, in denen sie<br />
implizit ist. Ich glaube, dass das der sachliche Grund ist, der Wittgenstein seine Bemerkung in<br />
der Logisch-Philosophischen Abhandlung Nr. 6.521 hat machen lassen. Die Lösung des<br />
Problems des Sinns des <strong>Leben</strong>s merkt man insofern am Verschwinden des Problems, als man<br />
sich in den <strong>Leben</strong>sentscheidungen und ihren Folgen ohne Schwierigkeiten verstehen kann, die<br />
durch ihre Ergebnisse mit konstituierte verständliche Annehmbarkeit des eigenen <strong>Leben</strong>s<br />
erfährt und deshalb der Frage gänzlich vergessen kann.<br />
Aber was man vergessen kann, kann man auch erinnern. Platon, zu dessen Philosophie nach<br />
dem Bonmot von Alfred Whitehead die ganze folgende Philosophie nur Fußnoten verfasst<br />
hat, hat die reflexive Einsicht der Philosophie auch deshalb mit der Erinnerung verglichen.<br />
Und nach einer eindrucksvollen Interpretation dieser Philosophie 23 hat ihn u. a. gerade das<br />
Problem der Grenzen der Explizierbarkeit praktischen Wissens zu seiner Kritik an der<br />
Schriftlichkeit philosophischer Klärungen und zu Strategien der indirekten Mitteilung (u. a.<br />
dem Gebrauch von erfundenen Mythen, dem Verfassen von Dialogen und ihrer kunstvollen<br />
Regie) motiviert. <strong>Das</strong>, was er Ideen nannte, ist als die Vielheit der unausdrücklichen Bezugsund<br />
Orientierungspunkte praktischer Fähigkeiten zu verstehen, mit der Idee des Guten als<br />
Idee aller Ideen. Ein Handwerker z. B. kann sich an der Idee des Artefakts, das er<br />
produzieren will, als an einem guten Exemplar dieser Art von Gegenstand orientieren und<br />
diese Idee den Gegebenheiten des Materials, mit dem er zurechtkommen muss, anmessen.<br />
Deshalb darf die Idee keine Blaupause sein, die eins-zu-eins ins Material zu übertragen wäre,<br />
sondern muss hinreichende Unbestimmtheit oder Flexibilität für solche anmessenden Anpassungen<br />
nicht nur der Mittel an Ziele, sondern auch umgekehrt der Ziele an verfügbare<br />
Mittel haben. Der Sinn des <strong>Leben</strong>s könnte aus der Perspektive der ihr <strong>Leben</strong> führenden<br />
Person, also unter Beachtung seiner ‚Jemeinigkeit’, als ein Analogon einer Idee im<br />
platonischen Sinne aufgefasst werden, wenn man sich drei wesentliche Unterschiede<br />
gegenwärtig hält: Für Platon waren Ideen notwendige Gegebenheiten und die Orientierung an<br />
Ideen notwendig – der Sinn des <strong>Leben</strong>s ist eine kontingente Gegebenheit (oder Nicht-<br />
Gegebenheit) und die ausdrückliche Orientierung an ihm ist optional; Ideen waren allgemeine<br />
Gegebenheiten für Platon (schon weil sie Gegenstand des höchsten Wissens sein sollten und<br />
es Wissen platonisch nur von Allgemeinem gibt), der Sinn des <strong>Leben</strong>s als die Idee eines<br />
individuellen <strong>Leben</strong>s aus der Perspektive des das <strong>Leben</strong> Führenden wäre eine unvermeidlich<br />
individuelle Gegebenheit; und anders als Ideen wäre der Sinn des <strong>Leben</strong>s ein Bezugs- und<br />
Orientierungspunkt nicht nur für praktische Fähigkeiten, sondern auch fürs Verstehen und das<br />
Selbstverständnis im Hinblick auf Widerfahrnisse und Vorgegebenheiten.<br />
An der Stelle, an der ich den Begriff des <strong>Leben</strong>ssinns auf der Landkarte unserer Begriffe sehe,<br />
stand für die antike Philosophie die Idee der Eudaimonie, des guten oder gelingenden <strong>Leben</strong>s,<br />
das vor allem unter dem Aspekt des Tätigseins gesehen wurde, weil die noch vorzüglichere<br />
reine Betrachtung der Theorie im bios theoretikos nur wenigen und auch diesen nur in<br />
wenigen Augenblicken vollkommen möglich sein soll. Eudaimonia wurde oft als „Glück“<br />
übersetzt, weil das es sei, was alle wesentlich anstreben. Aber auch wenn es, wie von<br />
Aristoteles, durchaus angemessen erläutert wurde, wenn er es dem Skopus, dem Zielpunkt des<br />
Bogenschützen vergleicht (der wegen der elliptischen Flugbahn des Pfeils gerade nicht direkt<br />
23 Vgl. Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 2 1999.<br />
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