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Das Verstandene Leben - Ernst Michael Lange

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auch eine Unterscheidung als Interessen-abhängig eingesehen werden kann, die den<br />

Unterscheidungen im Felde der Zeitbestimmungen noch voraus liegt – die zwischen primär<br />

räumlich Bestimmten und primär zeitlich Bestimmten. Typische zeitlich bestimmte<br />

Begebenheiten sind Ereignisse wie ‚die totale Sonnenfinsternis in Mitteleuropa im Sommer<br />

2002’ oder ‚Deutschland erster Sieg bei einer Fußball-Weltmeisterschaft 1954 in der<br />

Schweiz’. In den kursiv geschriebenen Bestandteilen dieser Kennzeichnungen von<br />

Ereignissen ist auch von räumlich lokalisierenden Bestimmungen Gebrauch gemacht, aber<br />

sie stehen nicht im Vordergrund des Interesses. Auf der anderen Seite sind Artefakte, z.B. ein<br />

Stuhl, primär räumlich und funktional bestimmte Gegenstände. Aber gerade Artefakte haben<br />

notwendig auch zeitliche Aspekte: Ein Stuhl ist der Natur der Sache nach irgendwann von<br />

irgend jemandem hergestellt worden; und er wird, abhängig von der Haltbarkeit der<br />

Materialien, aus denen er gemacht ist, irgendwann seiner Funktion, ein Möbel zum Sitzen zu<br />

sein (und deshalb entsprechend räumlich dimensioniert sein zu müssen), nicht mehr dienen<br />

können. Davon sieht unsere Kategorisierung des Stuhls als einer primär räumlich und<br />

funktional bestimmten Gegebenheit aber ab, das interessiert uns nicht in erster Linie und für<br />

die Eventualitäten seiner zeitlichen Aspekte kommt dieser Teil der Sprache auf andere Weise<br />

auf als durch die kategoriale Bestimmtheit des Ausdruckstyps selbst (z.B. durch Verbformen<br />

für Zustandsveränderungen wie ‚ist zerbrochen’). Insofern ist auch die Unterscheidung<br />

räumlich bestimmt/zeitlich bestimmt von unserem Interesse abhängig. Erst die physikalische<br />

Theorie im Stadium der allgemeinen Relativitätstheorie hebt diese komplementäre<br />

Abstraktion der Kategorisierung von Gegebenheiten als primär räumlich oder primär zeitlich<br />

bestimmt auf und versteht alle Gegebenheiten einförmig als vierdimensional raumzeitlich.<br />

Aber zur Erklärung dieser Begriffsbildung scheint sie negativ auf die aufgehobene,<br />

komplementär abstrahierende Kategorisierung im natürlichen Verstehen bezogen zu<br />

bleiben. 38<br />

Bevor ich die gegebene Erklärung für ‚Zeit’ aufgrund der angestellten Erinnerungen und<br />

Überlegungen weiter entwickele, möchte ich auf einen möglichen Einwand antworten. Mit<br />

ihm wird bezweifelt, dass die beiden Fragen nach Zeitlichem tatsächlich die grundlegenden<br />

sind. Er bringt auch einen Zweifel mit sich, ob es sich bei Prozessen und Ereignissen<br />

wirklich um kategorial verschiedene zeitliche Gegebenheiten handelt. Es scheint nämlich<br />

neben ‚wann’ und ‚wie lange’ noch eine dritte Frage zu geben, die ein grundlegendes<br />

Interesse an einer Art von zeitlichen Bestimmungen ausdrückt, die Frage ‚wie oft’ (auf<br />

Englisch ‚how many times’) Diese Frage ist aber eine zeitliche nur, wenn die<br />

Gegebenheiten, nach deren Anzahl gefragt wird, selbst zeitlich (nämlich als Ereignisse)<br />

bestimmt sind (und nicht z.B. als Zahlen). Aber im Kontext der Aufmerksamkeit auf die<br />

Frage ‚wie oft’ als zeitlicher könnte man auf folgende Weise bezweifeln, dass Ereignisse<br />

und Prozesse kategorial verschieden sind: Es scheint Umformulierungen der Fragen, die den<br />

Kategorien zugeordnet worden sind, zu geben, die für eine Reduzierbarkeit auf einen Typ<br />

von zeitlichen Gegebenheiten spricht. ‚Wann’ heißt ja soviel wie ‚zu welchem Zeitpunkt’<br />

und könnte ‚wie lange’ nicht als ‚zwischen welchen Zeitpunkten’ ausgedrückt werden<br />

Zunächst einmal kann die vorgeschlagene Umformulierung davon überzeugen, dass ‚wie<br />

oft’ nicht mit den andern beiden Fragen auf eine Ebene gehört. Denn dafür müsste eine<br />

analoge Umformulierung ja wohl lauten ‚zwischen welchen Zeitpunkten und zwischen<br />

welchen Zeitpunkten nicht’. Dabei wäre hinsichtlich der Frageglieder mit der Möglichkeit<br />

mehrerer beantwortender Angaben zu rechnen – d.h. ‚wie oft’ ist, wenn es sich überhaupt<br />

auf zeitliche Begebenheiten bezieht, jedenfalls eine komplexere Frage höhere Stufe. Was die<br />

Umformulierung der beiden anderen Fragen mittels ‚Zeitpunkten’ angeht, so scheint die für<br />

38 In allen ihren Stadien konzipiert die neuzeitliche physikalische Theorie Zeit als den numerischen Parameter ‚t<br />

= 1, 2, 3, …’ und damit Zeit als eine Folge von Zeitpunkten. Eine philosophische Aufklärung unseres normalen<br />

Zeitbegriffs kann und muss auch die vortheoretischen Grundlage dieses Zeitbegriffs aufweisen können, was ich<br />

weiter unten tun werde.<br />

26

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