24.01.2015 Aufrufe

Das Verstandene Leben - Ernst Michael Lange

Das Verstandene Leben - Ernst Michael Lange

Das Verstandene Leben - Ernst Michael Lange

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN
  • Keine Tags gefunden...

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Perspektive. Am klarsten ist das bei Handlungen einer Person. Eine Handlung ist ein<br />

Verhalten mit einer Absicht und aus einem Grund – ein Verhalten, für das sich aus der<br />

Perspektive des Verhaltenden etwas sagen lässt, ein Grund geben lässt. Im einfachsten Fall ist<br />

die Absicht, das, was der Handelnde erreichen will, selbst der Grund. <strong>Das</strong>s diese<br />

Perspektivität, der Unterschied, der in den grammatischen Personen der Sprache zum<br />

Ausdruck kommt, für das Verstehen von zunächst handlungsfähigem <strong>Leben</strong>digem<br />

grundlegend ist, hat weit reichende Folgen. Ohne Umstände anwendbar ist diese<br />

Verstehensweise zunächst auf Wesen, die sprechen und die wir deshalb nach ihren<br />

Handlungsgründen fragen können. Oft müssen wir nicht fragen, weil uns ihre Absichten aus<br />

dem Kontext ihres Verhaltens offensichtlich scheinen und dies auch oft sind. Aber in<br />

schwierigen Fällen müssen wir fragen (können), um zu verstehen – und das macht<br />

Handlungen von Personen zu wesentlich intersubjektiven Gegebenheiten. Ihre<br />

Intersubjektivität gehört schon zum Phänomen des Handelns selbst 7 , nicht erst zu den<br />

Redeweisen über die Phänomene (wie bei toten Gegenständen und Prozessen). Wir wenden<br />

die ‚intentionalistische’ Verstehensweise auch auf Tiere an, reden davon, dass ein Hund ‚nur<br />

spielen’ will, den Knochen ‚sucht’, ‚weiß’, dass auf dem Baum eine Katze ist etc. etc. Aber<br />

bei Tieren können wir uns für ihr Verstehen nur auf den Kontext ihres Verhaltens und die<br />

allgemeine Kenntnis ihre grundsätzlichen Verhaltensmöglichkeiten stützen. Die<br />

entscheidende Quelle für Belege, die bei menschlichen Personen die Möglichkeit der<br />

Befragung darstellt, besteht bei ihnen nicht, weil sie über keine Sprache verfügen (jedenfalls<br />

keine, die uns verständlich wäre). Die Anwendbarkeit der ‚intentionalistischen’<br />

Verstehensweise auf Tiere ist also entscheidend ausgedünnt. Noch stärker ist das der Fall<br />

hinsichtlich der dritten Klasse von <strong>Leben</strong>digem, den Pflanzen. Auch da reden wir davon, dass<br />

sie nach dem Licht ‚streben’, ihre Blüten zur Sonne ‚ausrichten’ etc., aber damit ist in keiner<br />

Weise die Unterstellung von Intentionalität verbunden und die ausschließliche<br />

Kontextbezogenheit in Bezug auf Tiere zu einem funktionalen Verständnis der Erfordernisse<br />

für die Aufrechterhaltung des Stoffwechsel-Prozesses verfestigt, dessen Vorhandensein<br />

‚leben’ ja biologisch definiert.<br />

<strong>Das</strong> Verb ‚leben’ bezeichnet von seiner biologischen Definition her einen Prozess, ohne dass<br />

der Dauer des Prozesses durch die Logik des Ausdrucks eine Bestimmung zukäme. Wer lebt,<br />

das impliziert der Gegensatz zum tot sein, wird sterben, aber es ist offen, wann. <strong>Das</strong> voll<br />

entfaltete Substantiv ‚<strong>Leben</strong>’ im Sinn von Vita bezeichnet dagegen eine durch Geburt und<br />

Tod begrenzte zeitliche Ganzheit. Sie ist dem <strong>Leben</strong>den selbst (in 1. Person) nie gegeben, nur<br />

dem Biographen post mortem in 3. Person. Die Vita, die eine Person zu einem Zeitpunkt ihres<br />

<strong>Leben</strong>s verfassen mag, ist daher immer Teilvita, aus 3. Person Teilbiographie. Und doch ist<br />

die Person in Situationen der Orientierungssuche oder im Rückblick auf ihr <strong>Leben</strong> in<br />

gewissem Sinn dem Ganzen ihres <strong>Leben</strong>s konfrontiert. Diese Ganzheit ist wesentlich keine<br />

zeitliche, sondern eine strukturelle – die Ganzheit der das <strong>Leben</strong> ausmachenden<br />

<strong>Leben</strong>svollzüge: Tätigkeiten, Handlungen und Widerfahrnisse; und <strong>Leben</strong>sbezüge: Familie,<br />

Beruf, Mitgliedschaft in Organisationen etc. In Verwendungen des Verbs ‚leben’ hat diese<br />

strukturelle Ganzheit partielle Repräsentanten in Redeweisen wie ‚in der Stadt’ oder ‚auf dem<br />

Land leben’ oder auch ‚zu (in) einer bestimmten Zeit (Epoche) leben’. Zum ‚in der Stadt<br />

leben’ gehören gewisse typische <strong>Leben</strong>svollzüge: arbeiten, das <strong>Leben</strong>snotwendige besorgen,<br />

sich erholen und unterhalten etc. Die strukturelle Ganzheit, der eine Person in den genannten<br />

typischen Situationen der Orientierungssuche und des Rückblicks als ihrem ganzen <strong>Leben</strong><br />

7 Es gibt einen Gemeinplatz, dem zufolge der Mensch das Wesen ist, das nicht nicht kommunizieren kann. Wenn<br />

‚können’ hier seinen Fähigkeitssinn hat und ‚kommunizieren’ intentional als ‚zu verstehen geben’ zu verstehen<br />

ist, ist diese Behauptung falsch, denn man kann willentlich den Mund halten und sich an einer etwa geführten<br />

Rede nicht beteiligen. Wenn ‚kommunizieren’ hier nicht-intenional im Sinn von ‚verständliches Verhalten<br />

zeigen’ zu verstehen ist, dann ist die Behauptung richtig und die Intersubjektivität des Handelns (auch des<br />

einsamen, ‚monologischen’) ist dafür die Erklärung.<br />

6

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!