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Das Verstandene Leben - Ernst Michael Lange

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ihres <strong>Leben</strong>s bis zum Erreichen der Selbständigkeit des Kindes übernommen. Auch diese<br />

Form der Annahme, in ihrer entwickelten Form ist es die Einstellung der Liebe, ist eine<br />

Weise der Bewertung des Kindes – jetzt nicht eine Bewertung hinsichtlich seiner<br />

Eigenschaften und Fähigkeiten, sondern als ganzer Person schon in seinem bloßen <strong>Das</strong>ein.<br />

Der Philosoph Leibniz hat Liebe als Freude am Glück des anderen definiert 32 , aber richtiger<br />

erscheint mir zu sagen: Liebe ist Freude am <strong>Das</strong>ein des anderen und an seinem Glück<br />

insofern, als er selbst (wie gemeinhin angenommen wird) glücklich sein oder glücklich<br />

werden will. Diese Freude am <strong>Das</strong>ein des anderen, ihres Kindes, muss die Mutter (oder die<br />

Fürsorge übernehmende Bezugsperson) aufbringen und in ihrem Benehmen ausdrücken,<br />

damit dieses Zutrauen zum Recht seiner Ansprüche auf Fürsorge und Zuwendung, die im<br />

Maße ihres Anerkennung zu Anspruchsrechten werden, und über die Verlässlichkeit<br />

derselben Vertrauen in den verlässlichen und freundlichen, jedenfalls nicht durchweg<br />

feindlichen Charakter der Wirklichkeit gewinnen kann. Auch diese affektive Bewertung, die<br />

das Kleinkind erfährt, setzt es in Selbstbewertung um – in Selbstbewusstsein und Zutrauen<br />

zu den eigenen Ansprüchen und Fähigkeiten. Ich denke, dass die <strong>Leben</strong>ssinnfrage an diese<br />

affektive Dimension der Bewertung und Selbstbewertung anschließt, indem sie sich mit dem<br />

Verstehenspotential der erworbenen Fähigkeiten verbindet (verbunden wird). Dann handelt<br />

es sich gar nicht um ein Übergreifen der Funktion der Selbstbewertung von den Fähigkeiten<br />

auf einen umfassenderen Bereich, sondern um die Verbindung und Integration verschiedener<br />

Dimensionen der Personwerdung mit ihnen zugehörigen Aspekten der Selbstbewertung.<br />

Am Ende dieser kursorischen Erinnerungen von Vorgegebenheiten und Vorgaben<br />

menschlicher Personwerdung ist noch einmal auf ihren ersten Punkt, die zeitliche<br />

Verfasstheit der Erfahrung zurückzukommen. Mit der Einübung in die Rhythmen der<br />

Bedürfnisbefriedigung, in Verrichtungen und Tätigkeiten der Bewältigung und Gestaltung<br />

des <strong>Leben</strong>s erwerben wir auch ein Bewusstsein von der zeitlichen Verfasstheit dieses allen.<br />

Zu jedem Zeitpunkt nach dem elementaren Spracherwerb hat eine Person ein Bewusstsein<br />

von Zukunft (noch nicht, später), in die sie mit Absichten und Plänen vorausgreift, und<br />

Vergangenheit (nicht mehr, früher), von der sie in spontanen Erinnerungen betroffen wird,<br />

und Gegenwart (jetzt, gleich), in der sie sich befindet, ergeht, beschäftigt oder langweilt.<br />

Dieses Zeitbewusstsein ist nicht nur eine intellektuelle Angelegenheit, sondern auch eine<br />

affektive. 33 <strong>Das</strong> Nicht-mehr vergangener Befriedigung, die nicht wiederholt werden kann,<br />

ebenso wie die Erfahrung der Nicht-Realisierbarkeit von Absichten etc. wird zum Anlass von<br />

Ärger, Wut, Traurigkeit, bei eigener Verantwortlichkeit für diese Negativitäten Anlass zu<br />

Reue, Scham und Schuldgefühlen. Und die Zukunft wird im Lichte von negativen<br />

Erfahrungen ebenso sehr zum Anlass der Beängstigung und Furcht, wie sie von den eigenen<br />

und anderer Erwartungen, Absichten und Plänen her Anlass zu Freude und positiven<br />

Phantasien werden kann. Auch dies sind Selbstbewertungen der Person im Hinblick auf ihre<br />

Erfahrung, ihr Ergehen und ihre Erwartungen. Die Abhängigkeit von einer nicht mehr<br />

änderbaren Vergangenheit und einer offenen, nie gänzlich beherrschbaren Zukunft ist eine<br />

durchdringende Vorgegebenheit menschlicher Erfahrung, zu der jede Person immer wieder<br />

eine Einstellung zu finden versuchen muss. Nicht umsonst sind neben Liebe und Tod<br />

Vergänglichkeit und Kontingenz im Allgemeinen die wesentlichen Themen von kulturellem<br />

Ausdruck in Dichtung und schönen Künsten. Wesentlich wegen des Bezugs auf eine offene<br />

Zukunft sind Personen Prozesse, von denen Teile immer noch ausstehen, auch für sie selbst.<br />

Der uneinholbare Ausstand in der Erfahrung jeder Person ist der erwartete und gefürchtete<br />

eigene Tod, zu dem das gelebte und noch zu lebende <strong>Leben</strong> den vollendeten Gegensatz<br />

32 Vgl. Robert Spaemann: Glück und Wohlwollen - Versuch über Ethik, Stuttgart 1989, S. 123.<br />

33 Eine grandiose Explikation des Zeitbewusstseins aus den Perspektiven der <strong>Leben</strong>serfahrung geben die<br />

Interpretationen der Dichtung Pindars von <strong>Michael</strong> Theunissen - vgl. Pindar - Menschenlos und Wende der Zeit,<br />

München 2000.<br />

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