Das Verstandene Leben - Ernst Michael Lange
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dass sie von Personen unausdrücklich oder ausdrücklich geltend gemacht werden. Die<br />
primären Bezugspersonen eines Heranwachsenden in der Familie sind auch diejenigen, die<br />
ihm gegenüber zuerst soziale Normen geltend machen, ihre Einhaltung fordern und ihre<br />
Verletzung kritisieren, sanktionieren, bestrafen. Auf der dadurch gelegten Grundlage bauen<br />
Institutionen sozialer Erziehung und Ausbildung wie Kindergärten, Schulen etc. auf. Mit den<br />
Vorgegebenheiten der sozialen Normen ist für die heranwachsende Person zunächst die<br />
Aufgabe verbunden, zu lernen, ihnen zu genügen und zu entsprechen, indem sie sich<br />
zunehmend selbst an die Forderungen und Normen des Zusammenlebens bindet; späterhin<br />
auch die Aufgabe, eine selbständige Stellung ihnen gegenüber einzunehmen.<br />
Wo Forderungen und Normen ausdrücklich geltend gemacht werden, wird gesprochen.<br />
Damit kommt eine eigentümliche Vorgegebenheit der Personwerdung in den Blick, die<br />
Sprache, die man lernt, indem man aufwächst. Auch sie beruht auf Normen, Normen der<br />
Verständlichkeit (des Sinns), aber diese Normen müssen weder ausdrücklich formuliert sein<br />
noch mit formellen Sanktionen verbunden werden, weil der Heranwachsende ein<br />
überragendes allgemeines Motiv hat, sich ausdrücken zu lernen und es richtig zu tun – das<br />
erleichtert und erhöht schließlich die Chance der Befriedigung seiner Bedürfnisse. An<br />
Verständlichkeit, den Normen des Sinns, hat jede Person von selbst ein starkes Interesse,<br />
nicht Verstandenwerden und darum z.B. nicht zu bekommen, was man will, ist Sanktion<br />
genug, so dass es formeller Sanktionsmittel – Kritik, Missbilligung, Verachtung, Bestrafung<br />
– gar nicht oder kaum bedarf.<br />
Vermutlich kann empirisch das moralische Lernen der Normen menschlichen Umgangs vom<br />
Sprache Lernen gar nicht getrennt werden. Und natürlich dient die gelernte Sprache nicht nur<br />
dem Ausdrücken eigner Bedürfnisse und Wünsche, sondern sie ist das universale Mittel auch<br />
des Verstehens, nicht nur der sozialen, sondern auch der natürlichen Wirklichkeit. Man darf<br />
auf Seite der Heranwachsenden ein allgemeines Motiv, die eigene Wirklichkeit verstehen zu<br />
lernen, unterstellen, wenn auch vielleicht zuerst nur als unselbständigen Bestandteil des noch<br />
allgemeineren Motivs, groß und selbständig wie die erwachsenen Bezugspersonen werden zu<br />
wollen und deshalb auf alles neugierig zu sein, was dazu beitragen kann oder könnte.<br />
Im Hereinwachsen in die normativen Ordnungen von Sprache, sozialen Konventionen, Moral<br />
etc. wird ein menschliches Lebewesen zur Person, zu einem sich wesentlich selbst<br />
bewertenden Lebewesen. Bezüglich dieser Ordnungen besteht die Selbstbewertung zunächst<br />
in der Selbstanwendung der Normen dieser Ordnungen. Zu uns selbst bewertenden<br />
Lebewesen werden wir, indem wir von anderen, zuerst den Bezugspersonen, die uns<br />
aufziehen, bewertet werden und lernen, die Gesichtspunkte der Bewertung selbst zu<br />
übernehmen und auf uns anzuwenden. <strong>Das</strong> Kind tut etwas Untersagtes oder Verbotenes und<br />
wird vielleicht mit einem Kopfschütteln oder mit stärkeren Korrektiven zurechtgewiesen.<br />
Beim nächsten Mal tut es das Verbotene vielleicht wieder, aber kopfschüttelnd. Die<br />
Übernahme der abwehrenden Geste ist der Beginn der Selbstbewertung, die in diesem Fall<br />
das Handeln noch nicht wirklich bestimmt – aber es ist in den meisten Fällen nur eine Frage<br />
der Zeit, bis das der Fall ist. Denn es will werden wie die Erwachsenen, groß und selbständig,<br />
und hat von daher ein überragendes Motiv, Verbote, Anweisungen, Ratschläge etc. zu<br />
befolgen. In dem Maße, in dem es ihm gelingt, hat es die Instanz der Beurteilung des eigenen<br />
Benehmens und Verhaltens als Gesichtspunkt der Selbstbeurteilung für sich an- oder in sich<br />
aufgenommen, verinnerlicht oder internalisiert, wie Psychologen sagen. Die Instanz der<br />
moralischen Selbstbewertung hat einen eigenen Namen – Gewissen – aber es gibt nicht nur<br />
moralisches Gewissen, weil es nicht nur moralische Selbstbewertung gibt. Nietzsche hat ganz<br />
zu Recht von intellektuellem (Verständnis-bezogenem) Gewissen gesprochen. Nicht nur<br />
unseren Wünschen und Handlungsimpulsen, Einstellungen und Gefühlen gegenüber<br />
erwerben wir im Aufwachsen eine Instanz der Bewertung, auch unseren nicht praktischen<br />
(auf das Handeln gerichteten) Meinungen / Überzeugungen gegenüber gewinnen wir<br />
reflexive Beurteilungsdistanz. Wir lernen nicht nur praktisch zu fragen: „Ist das geraten,<br />
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