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Das Verstandene Leben - Ernst Michael Lange

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irrelevant. Warum aber das doppelte Interesse an Prozessen einerseits als wiederholbaren<br />

zeitlichen Gegebenheiten, andererseits als einmaligen 42<br />

Mein Vorschlag: <strong>Das</strong> doppelte Interesse an sowohl Wiederholbarkeit als auch Einmaligkeit<br />

ist in Beziehung auf den Umstand zu verstehen, dass unsere Begriffe für Zeitliches nicht nur<br />

für unser (theoretisches) Verstehen, sondern auch für unser (praktisches) Handeln eine Rolle<br />

spielen. Unsere Handlungen können wir aber, insofern wir ihren Erfolg nicht sicher<br />

voraussehen können und Zukünftiges (d.h. hier nur: zeitlich Späteres) überhaupt nicht im<br />

Einzelnen wissen, nur als riskante (nicht erfolgssichere) einmalige Vorkommnisse auffassen.<br />

Die eine Handlung leitende Absicht kann geradezu als deiktische (singuläre) Bezugnahme<br />

auf die ergriffene Handlungsmöglichkeit verstanden werden. 43 Insofern wir uns andererseits<br />

für unsere Handlungen auf die Kenntnis kausaler Zusammenhänge stützen, müssen wir<br />

Handlungen auch als Typen und damit immer als wiederholbare Prozesse konzipieren und in<br />

diesen Prozessen eine Verrichtung als vor (früher als) andere(n) auszuführen bestimmen<br />

können. Im praktischen Kontext ist also das doppelte Interesse an zeitlichen Gegebenheiten<br />

als sowohl wiederholbaren als auch im Vollzug eines Typs von Tätigkeit bzw. der<br />

Vollbringung eines Typs von Handlung zu einer bestimmten Zeit einmaligen Vorgängen (als<br />

datierbarer Prozess bzw. datierbares Ereignis) unmittelbar verständlich.<br />

Wie sich das auf das Verstehen überträgt, kann das Beispiel der Verfolgung eines<br />

Theaterstücks durch einen Zuschauer deutlich machen. Wenn dieser das Stück in Unkenntnis<br />

seiner Handlung verfolgt, erscheint es ihm als einmaliger Prozess, dessen Ausgang für ihn<br />

offen ist (bezüglich dessen er also hinsichtlich des Helden des Stücks solche Fragen stellen<br />

könnte wie ‚was wird er tun’, ‚wie wird es ihm ergehen’). Wenn er dagegen das Stück<br />

schon kennt, kann er Feststellungen treffen wie ‚das hat er schon getan, das aber wird er erst<br />

noch tun’. Er kann also Bestimmungen von Vergangenheit und Zukunft auf Vorgänge<br />

anwenden, die in Beziehung auf den ganzen Handlungsverlauf, der ihm aus vorheriger<br />

Lektüre oder einer anderen Aufführung schon bekannt ist, im Stück in bestimmter Ordnung<br />

früher oder später passieren. Interessant ist im zweiten Fall, dass das jeweilige Jetzt, das<br />

Vergangenheit und Zukunft scheidet, für den Zuschauer doppelt bestimmt ist – durch die<br />

Situation der Personen im Stück und durch seine Wahrnehmungssituation. Diese Doppelung<br />

gibt es für das Handeln in 1. Person nicht – der Handelnde ist in seinem Handeln gleichsam<br />

der (Co-)Autor des Stücks, in dem er eine Rolle spielt. 44 Deshalb ist für den Handelnden die<br />

Zukunft wesentlich offen, für den Verstehenden unbedingt nur, was ihre Einzelheiten angeht.<br />

Und die mit der Verschiedenheit von 1. und 3. Person verbundenen Perspektiven<br />

ermöglichen die Freiheit der Wahl einer ‚Betrachtungsweise’: die Konzeption von Prozessen<br />

als entweder wiederholbar oder als einmalig auch für das Verstehen.<br />

Inwiefern handelt es sich nun bei den Zeitbestimmungen in den beiden Reihen um eine Art<br />

von modalen Bestimmungen Eine Antwort gelingt am besten mit einem weiten Blick auf<br />

die Bestimmungen der Modalität. Der grundlegende modale Kontrast wirklich/möglich ist<br />

schon mit dem Verfügen über die Verneinung gegeben. Jeder empirische Aussagesatz ist<br />

wesentlich, seinem Sinn nach, entweder wahr oder falsch – d.h. er muss, um sinnvoll zu sein<br />

42 Ereignisse sind in dem hier befolgten Sprachgebrauch zeitliche Individuen und als solche immer einmalig;<br />

freilich gibt es hinsichtlich ihrer die Differenz Typ/Vorkommnis. Als ich vorhin über die Verankerung der<br />

Tageszeitbestimmung durch Uhren gesagt habe, man habe dafür ein sich täglich wiederholendes Ereignis<br />

gewählt (den Zeitpunkt der Mitternacht), hätte es genauer heißen können/müssen: einen täglich wieder<br />

instantiierten Typ von Ereignis.<br />

43 So Donald Davidson über die logische Form der Konklusion ein Praktischen Syllogismos in ‚How is<br />

Weakness of the Will possible’, in: Essays on Actions and Events, Oxford 1980, bes. 31 ff.<br />

44 Es ist sehr charakteristisch, dass Kierkegaard in seinem religiösen Bezugsrahmen natürlich Gott als Autor des<br />

Stückes hat und die doppelte Bestimmtheit der handelnden Person, die im Stück mitspielt, durch die Nicht-<br />

Unterschiedenheit von Rolle und Souffleur zu fassen sucht – Entweder/Oder II, 145 f. Den Anmerkungen des<br />

Übersetzers Hirsch der von mir benutzten Ausgabe ist zu entnehmen, das die Theatermetapher in dieser Version<br />

aus Schellings System des transzendentalen Idealismus (1800) stammt.<br />

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