24.01.2015 Aufrufe

Das Verstandene Leben - Ernst Michael Lange

Das Verstandene Leben - Ernst Michael Lange

Das Verstandene Leben - Ernst Michael Lange

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN
  • Keine Tags gefunden...

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Auffassung vertreten, hinsichtlich dessen, was er Bedeutung als die Beziehung der zeitlichen<br />

Teile zum ganzen <strong>Leben</strong> nannte, „müsste (man) das Ende des <strong>Leben</strong>slaufes abwarten und<br />

könnte in der Todesstunde erst das Ganze überschauen, von dem aus die Beziehung seiner<br />

Teile feststellbar wäre“. 9 Wenn der Sinn des <strong>Leben</strong>s wesentlich sein zeitlicher Verlauf und<br />

dessen erinnerbarer Zusammenhang wäre, ist das ganz konsequent. Aber das kann „der Sinn<br />

des <strong>Leben</strong>s“ nicht allein sein, lag er doch auch für Dilthey „in der Gestaltung, in der<br />

Entwicklung“, also bei etwas, das schon während des <strong>Leben</strong>slaufes wichtig sein kann. Der<br />

Aporie einer zeitlichen Auffassung des <strong>Leben</strong>ssinns entkommt auch nicht Heidegger mit<br />

seiner Auffassung von einem „Vorlaufen“ in die äußerste Möglichkeit des Todes schon im<br />

entschlossenen Existieren, die auch aus den Aporien bei Dilthey entwickelt ist. Sie ist<br />

vielmehr ein vergeblicher Versuch, einen zeitlichen Sinn für ‚Sinn des <strong>Leben</strong>s’ gegen die<br />

Evidenzen festzuhalten, indem der Tod als das zeitliche Ende des <strong>Leben</strong>s antizipierend in<br />

dessen Verlauf hineingezogen wird.<br />

2. kommt für das Verständnis von Sinn des <strong>Leben</strong>s der Zwecksinn von ‚Sinn’ in Betracht.<br />

Hier ist es eine historische Überlegung, die die Schwierigkeit deutlich macht. Bis in das erste<br />

Drittel des 19. Jahrhunderts hinein war es eine religiös begründete und vielfach<br />

philosophisch aufgenommene und ausgearbeitete Vorstellung, es gebe so etwas wie eine<br />

‚Bestimmung des Menschen’. Mit dem Schwinden der Überzeugungskraft der Religionen<br />

und der metaphysischen Lehren vom Menschen ist auch diese Überzeugung schwächer<br />

geworden und in dieser Situation ist die Rede vom ‚Sinn des <strong>Leben</strong>s’ überhaupt erst<br />

aufgekommen. 10 Erst wenn nicht mehr an eine von Gott oder der Verfassung der<br />

Wirklichkeit vorgegebene ‚Bestimmung’ des Menschen geglaubt wird, hat der Einzelne<br />

sowohl Raum als auch Anlass, nach dem Sinn des <strong>Leben</strong>s zu fragen. Wenn diese Überlegung<br />

zum historischen Ort der <strong>Leben</strong>ssinnfrage in einer Situation ‚metaphysischer<br />

Obdachlosigkeit’ richtig ist, dann ist klar, dass die Verwendung von Sinn als ‚Absicht’ oder<br />

‚Zweck’ als solche für ‚Sinn des <strong>Leben</strong>s’ auch nicht in Frage kommt: einen externen Zweck<br />

oder eine fremde höhere Absicht hat es mit unserm zu führenden <strong>Leben</strong> nicht, wenn wir nicht<br />

mehr an eine ‚Bestimmung des Menschen’ glauben; wir haben Zwecke im <strong>Leben</strong>, aber nicht<br />

einen einzigen Zweck für unser <strong>Leben</strong>, und die vielen Zwecke, die wir haben, müssen nicht<br />

hierarchisiert sein oder auf andere Weise ein harmonisches Ganzes bilden. Die, wenn<br />

teleologisch verstanden, gegenteilige Vorstellung bei Aristoteles von der eudaimonia, dem<br />

Glück oder gelingenden <strong>Leben</strong> als übergreifendem Zweck, wird noch erörtert werden. 11<br />

Aber es war Aristoteles, der die Elemente für ein Argument bereitgestellt hat, nach dem das<br />

<strong>Leben</strong> keinen solchen übergreifenden Zweck haben kann – schon aus grammatisch-logischen<br />

Gründen. Er hat physikalisch zwischen unvollendeten und vollendeten Bewegungen<br />

unterschieden und darauf zwei unterschiedliche Aspekte von Tätigkeiten/Handlungen<br />

gegründet. Unvollendete Bewegungen sind auf ein ihnen externes Ziel gerichtet, in dem (mit<br />

dessen Erreichung) sie erlöschen. Die zu dieser Kategorie von Bewegungen gehören<br />

Handlungen sind poieseis, ziel- oder zweckgerichtete Handlungen. Vollendete Bewegungen<br />

sind auf kein ihnen externes Ziel gerichtet und erlöschen nicht aus internen Gründen. <strong>Das</strong><br />

physikalische Vorbild war die (nach damaliger Vorstellung vollendete) Kreisbewegung der<br />

Gestirne. Tätigkeiten, die zur Kategorie dieser Art von Bewegungen gehören nannte<br />

Aristoteles praxeis. Und ihren Unterschied markierte er durch eine grammatisch-logische<br />

9 Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hrsg. v. M. Riedel,<br />

Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1970, 288. <strong>Das</strong> folgende Zitat ebenda 245.<br />

10 Dies gezeigt zu haben, ist das wesentliche Verdienst eines Beitrages von Volker Gerhardt, ‚Sinn des <strong>Leben</strong>s:<br />

Über einen Zusammenhang zwischen antiker und moderner Philosophie’, in: Praxis, Vernunft, Gemeinschaft,<br />

hrsg. v. Volker Caysa und Klaus-Dieter Eichler, Weinheim 1994.<br />

11 Auch Dilthey hielt anachronistisch noch für selbstverständlich: „Wir deuten das <strong>Leben</strong> als die Realisierung<br />

eines obersten Zweckes, dem sich alle Einzelzwecke unterordnen, als die Verwirklichung eines höchsten Gutes.“<br />

(a. a. O. 248) Wenn der Sinn des <strong>Leben</strong>s problematisch geworden ist, tun wir das gerade nicht mehr.<br />

8

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!