Das Verstandene Leben - Ernst Michael Lange
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Der Überblick über die Grammatik der Zeit sollte die Einordnung des <strong>Leben</strong>s in die<br />
Kategorie der Prozesse (der zeitlichen Gegebenheiten, die nicht aus Gründen der Logik der<br />
Ausdrücke für sie ein bestimmtes Ende haben – im Unterschied zu Ereignissen) unaufregend<br />
sein lassen. Auch Tätigkeiten sind Prozesse, aber gegen die Fassung des <strong>Leben</strong>s als Tätigkeit<br />
spricht, dass zum <strong>Leben</strong> zwar auch Tätigkeiten und Handlungen gehören – aber ebenso<br />
Widerfahrnisse, ja dass das <strong>Leben</strong> nach seinem Ursprung in der Geburt und dem unbestimmt<br />
bevorstehenden Ende im Tod sowie, per Implikation, in seinem zeitlichen Verlauf in vielen<br />
seiner Gegebenheiten selbst eher als ein Widerfahrnis verstanden werden kann und muss.<br />
Wenn einem das nicht schon von Tag zu Tag deutlich wird, dann doch an den Schwellen der<br />
Persönlichkeitsentwicklung, die in nicht bestimmt datierbarer Weise verschiedene Abschnitte<br />
des <strong>Leben</strong>s unterscheidbar machen, die wir als <strong>Leben</strong>salter verstehen.<br />
Die Konzeption von <strong>Leben</strong>saltern hat einen stark konventionellen Anteil – eine Rede zum 50.<br />
Geburtstag von Kant titulierte den Jubilar als ‚Ehrwürdiger Greis’ – heute würde wohl<br />
angesichts der allgemein gewachsenen <strong>Leben</strong>s(zeit)-Erwartung nirgends ein gesunder 50-Jähriger<br />
als ‚Greis’ bezeichnet und angesprochen werden können. Dennoch hat die Abgrenzung<br />
der <strong>Leben</strong>salter in vielen Fällen auch ein natürliches Fundament – das klarste Beispiel ist die<br />
Abgrenzung zwischen Kindheit und Jugendzeit anhand des Eintritts der Geschlechtsreife<br />
(Zeugungs- bzw. Gebärfähigkeit). Über die an diesen Schwellen aufdringliche<br />
Unumkehrbarkeit der Erfahrung bildet sich ein Verständnis des <strong>Leben</strong>sprozesses im Ganzen<br />
als eine unumkehrbare Folge von zeitlichen Stadien – <strong>Leben</strong>saltern – durchlaufend heraus, ein<br />
Umstand, den die Konstruktion eines handelnden Entwurfs der <strong>Leben</strong>seinheit im Ganzen von<br />
Kierkegaard her bei den Existenzphilosophen normativ überwölbt und – in der Abblendung<br />
bestehender Alternativen – zu verzeichnen tendiert.<br />
Gemäß der hier vertretenen ‚strukturellen’ (unzeitlichen) Konzeption von <strong>Leben</strong>ssinn kann in<br />
einer konkreten Erörterung der <strong>Leben</strong>sthemen, an denen sich für Personen ihre Auffassung<br />
vom Sinn ihres <strong>Leben</strong>s bilden kann und z. T. bilden muss, von dem Umstand der<br />
<strong>Leben</strong>salter-Gliederung der <strong>Leben</strong>serfahrung zunächst abgesehen und die Elemente<br />
möglichen <strong>Leben</strong>ssinns zunächst unabhängig von ihrem Zusammenhang mit <strong>Leben</strong>saltern<br />
erörtert werden. Erst, dass nicht jedes <strong>Leben</strong>sthema in jedem <strong>Leben</strong>salter relevant ist (man<br />
kann nicht in jedem <strong>Leben</strong>salter eigene Kinder haben und Enkelkinder können einem nur<br />
geschenkt werden, wenn man eigene Kinder gehabt hat) und dass einige die Relevanz anderer<br />
voraussetzen (z. B.), würde auf die zeitliche Ordnung der <strong>Leben</strong>serfahrung reflektieren lassen<br />
müssen und als das spezifisch zeitliche Thema im Kontext von <strong>Leben</strong>ssinn – der<br />
verständlichen Annehmbarkeit des eigenen <strong>Leben</strong>s – das Thema <strong>Leben</strong>salter deutlich werden<br />
lassen.<br />
Als ich am Ende des Abschnitt Vorgegebenheiten auf das Thema zeitliche Verfassung<br />
unserer (<strong>Leben</strong>s)Erfahrung zu sprechen kam, habe ich geschrieben: „Wesentlich wegen des<br />
Bezugs auf eine offene Zukunft sind Personen Prozesse, von denen Teile immer noch<br />
ausstehen, auch für sie selbst. Der uneinholbare Ausstand in der Erfahrung jeder Person ist<br />
der erwartete und gefürchtete eigene Tod, zu dem das gelebte und noch zu lebende <strong>Leben</strong><br />
den vollendeten Gegensatz bildet. Ob der Tod als das Ereignis der Beendigung eines <strong>Leben</strong>s<br />
freilich die die Erfahrung durchgreifend strukturierende Rolle spielt, die<br />
Existenzphilosophien ihm zugesprochen haben, bedarf erst noch einer Untersuchung.“<br />
Die Pauschalität dieser Bemerkungen ist irreführend. Obwohl im letzten Satz schon eine<br />
Distanzierung von der existenzphilosophischen Tradition steckt, geben die Formulierungen<br />
doch eigentlich nur existenzphilosophische Gemeinplätze, die im Nachdenken über das<br />
<strong>Leben</strong> eine lange Tradition haben und sich in Weisheitssprüchen wie ‚<strong>Das</strong> Ende gewiss, die<br />
Stunde ungewiss’ niedergeschlagen haben. Erst kürzlich hat ein Autor aus der<br />
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