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Das Verstandene Leben - Ernst Michael Lange

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was wir tun, wenn wir Zeit mittels Kalendern einteilen: Wir verwenden natürliche Prozesse<br />

als Normen der Einheit, machen sie uns zum Maßstab. Regeln (im Sinne von natürlichen<br />

Regelmäßigkeiten) werden in unserer Praxis zu Regeln (im Sinn von Normen) der<br />

Beurteilung und Bestimmung von weiteren (im Beispiel: zeitlichen) Gegebenheiten. Wie<br />

unsere begriffliche Praxis auch im Allgemeinen ist also die Zeitbestimmung durch Kalender<br />

ein Beispiel für die Gültigkeit einer Einsicht, die Francis Bacon in die Formulierung natura<br />

non nisi parendo vincitur gefasst hat (nur indem wir der Natur gehorchen, besiegen wir sie):<br />

In unseren normativen Regeln binden wir uns grundlegend an natürliche Regelmäßigkeiten<br />

und bemeistern sie dadurch. Unsere alltäglich gebräuchlichen Uhren zum Zwecke der<br />

Zeitmessung sind aus der regelmäßigen Einteilung der Zeiteinheit des Tages in 24 gleiche<br />

Teile, Stunden, gewonnen. Heute konstruieren wir regelmäßig laufende mechanische<br />

Instrumente als Uhren zur Zeitmessung mittels einer gleichsam kardinalen Skala und<br />

verwenden als Zeiteinheiten sogar natürliche Prozesse wie den Atomzerfall bestimmter<br />

langlebiger chemischer Elemente um größerer Genauigkeit willen. Auch der Lauf einer Uhr<br />

ist ein Prozess. Aber bevor es mechanische und elektrische Uhren gab, dienten Beobachtung<br />

und Beurteilung des Sonnenstandes als Uhren mit einer gleichsam ordinalen Skala.<br />

Sonnenaufgang, Sonnenhöchststand und Sonnenuntergang (Morgen, Mittag und Abend)<br />

wurden als auffällige natürliche Ereignisse zur Grundeinteilung des Tages verwendet und<br />

Zeitpunkte zwischen diesen Daten z.B. durch den normalen Zeitaufwand für Tätigkeiten wie<br />

das Pflügen eines Feldes bestimmter Größe, den Weg von einem Ort (‚ein Vormittag’, ‚eine<br />

Tagesreise’) zum anderen etc. bestimmt. Aus solchen Zeitbestimmungen entwickelten sich<br />

Sonnenuhren etc.<br />

Die Erinnerung an diese Sachverhalte und Praktiken weist auf die Komplementarität von<br />

Ereignissen und Prozessen auch bei der Bestimmung der Instrumente unserer<br />

Zeitbestimmungen hin. Um Kalender eindeutig zu machen und intersubjektiv zwingende<br />

Datierung zu erlauben, brauchte es ein Analogon zum Nullpunkt eines Koordinatensystems.<br />

Beim Kalender haben wir in der abendländischen Tradition ein einmaliges (und jedenfalls<br />

mit dieser Datierung fiktives) Ereignis als solchen Nullpunkt gewählt – die Geburt des<br />

christlichen Erlösers als Beginn des Jahres 1 unserer Zeitrechnung. Bei der Uhr gilt als<br />

Nullpunkt ein sich täglich wiederholendes Ereignis: die Vollendung der letzten Sekunde der<br />

letzten Stunde eines Tages bzw. der Beginn der ersten Sekunde der ersten Stunde des<br />

folgenden Tages. Für diesen Zeitpunkt haben wir den Ausdruck ‚Mitternacht’ in Gebrauch.<br />

<strong>Das</strong> Nullpunktereignis markiert das Ende des einen und den Beginn des nächsten Tages, d.h.<br />

des Zeitverlaufs (Prozesses), an den als ‚Einheitsverlauf’ (zu verstehen analog zur<br />

‚Einheitsstrecke’, z.B. 1 Meter, bei der Längenmessung) wir die Einteilung unserer Uhr<br />

gebunden haben.<br />

Diese Erläuterungen machen zusätzlich plausibel, inwiefern ‚Zeit’ zunächst als das erklärt<br />

werden kann, was wir mit Kalendern einteilen und mit Uhren messen. Diese Erklärung kann<br />

methodologisch genannt werden, weil sie auf unsere Methoden der Zeitbestimmung<br />

rekurriert. Demgegenüber ist die neue Erklärung – Zeit als Möglichkeit von Entstehen und<br />

Vergehen, Dauer und Veränderung – formal-ontologisch. Wie hängen beide Erklärungen<br />

zusammen Ich möchte nahe legen: An Entstehen und Vergehen interessiert uns primär das<br />

Datum, die Beantwortung der Frage ‚wann’, eher sekundär die Dauer dieser Vorgänge als<br />

selbst durch Anfang und Ende begrenzte Prozesse (also die Beantwortung der Frage ‚wie<br />

lange’). Bezüglich Dauer und Veränderung scheint unsere Interessenlage genau umgekehrt<br />

zu sein – zuerst wollen wir wohl wissen, wie lange eine Zustand oder seine Veränderung in<br />

einen anderen dauert, erst dann auch, wann der Zustand besteht oder die Veränderung<br />

stattfindet. Die unterschiedlichen Interessenlagen hängen sicher auch damit zusammen, dass<br />

wir an Zeitbestimmungen nicht nur theoretisch, für unser Verstehen, sondern auch praktisch,<br />

für unser Handeln, interessiert sind. Man könnte also die beiden formal-ontologischen<br />

Titelpaare für Gegenstände unseres Interesses an der Zeit ebenso wie die zuvor aufgewiesene<br />

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