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Das Verstandene Leben - Ernst Michael Lange

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Wirksamwerdens solcher Vorgaben und zum andern von der kategorialen Verschiedenheit<br />

der Vorgegebenheiten und Vorgaben weitgehend absieht.<br />

Als Vorgegebenheiten möchte ich die Bedingungen der Personwerdung bezeichnen, die in<br />

gleicher Weise für alle Personen bestehen, als Vorgaben diejenigen, die für jede Person trotz<br />

zufällig möglicher Übereinstimmungen mit anderen ein besonderes Aussehen haben.<br />

Hinsichtlich der Vorgaben lässt sich die Abstraktion von dem zeitlichen Aspekt des<br />

Prozesses der Personwerdung sachlich nicht durchhalten, weil Personen als sich selbst<br />

bewertende Lebewesen mit einer zu jedem Zeitpunkt ihres <strong>Leben</strong>s teilweise noch offenen<br />

Zukunft wesentlich Prozesse sind, sich in Auseinandersetzung mit ihrer Erfahrung<br />

entwickelnde, teilweise sich selbst gestaltende und verändernde Lebewesen. Dieser Umstand<br />

hat, konstruktiv zusammen gesehen mit den Entwicklungen der außermenschlichen Natur<br />

und der überindividuellen menschlichen Geschichte, z.B. die idealistische Begriffsbildung<br />

Hegels bestimmt, den Geist wesentlich als Werden-zu-sich aufzufassen. 27<br />

Wenn Personen wesentlich Prozesse sind, scheint die grundlegende Vorgegebenheit für sie<br />

die zeitliche Verfassung unserer Wirklichkeit zu sein. Wir werden geboren und damit in den<br />

zeitlichen Verlauf eines <strong>Leben</strong>s geworfen, wie die Existenzphilosophen gesagt haben. Mit<br />

dem Beginn des <strong>Leben</strong>s in der Geburt steht fest, dass der Prozess, der mit ihr beginnt, auch<br />

einmal enden wird, auch wenn es lange dauern mag, bis wir das auch nur abstrakt realisieren.<br />

Die Körperfunktionen, denen ein Neugeborenes zunächst ausschließlich zu leben scheint,<br />

sind selbst zeitlich verfasst: Wachen und Schlafen, Hungern/Dürsten und Essen/Trinken,<br />

Verdauen und Ausscheiden, Spielen und sich Langweilen. Und sie sind nicht nur zeitlich<br />

verfasste Prozesse, sie haben ihre Zeiten im Wechsel von Tageszeiten, von Tagen und<br />

Nächten, Wochen, Monaten und Jahren. Wir können für die Erfordernisse unserer Körperfunktionen<br />

nicht von Anfang an selbst sorgen, sind hilfsbedürftig und völlig abhängig,<br />

würden, allein gelassen, nicht überleben. <strong>Das</strong> Aussetzen von neugeborenen Kindern hieß, sie<br />

dem Tode (oder dem Zufall eines Weiterlebens als Findelkind) zu überantworten. <strong>Das</strong>s wir<br />

unsere Körperfunktionen kontrollieren lernen und im Hinblick auf sie selbständig werden, ist<br />

eine mit der zeitlichen Verfassung schon unseres biologischen <strong>Leben</strong>sprozesses gesetzte Vorund<br />

Aufgabe. Ihre Lösung verdankt sich teilweise spontanen Wachstums- und<br />

Reifungsprozessen. Aber wegen des Faktums der Hilflosigkeit von Geburt an sind diese<br />

immer auch sozial geprägt. Ein weiterer Aspekt der Vorgegebenheit einer zeitlich verfassten<br />

Wirklichkeit ist, dass wir in eine bestimmte Zeit hinein geboren werden.<br />

Die mit dem Geborenwerden gesetzte zeitliche Verfassung unseres <strong>Leben</strong>s – Hannah Arendt<br />

sprach von der Grundbedingung der Natalität 28 analog zur Mortalität – impliziert soziale<br />

Vorgegebenheiten. Wir werden nicht nur geboren, sondern von unserer Mutter geboren.<br />

Wenn es uns gut geht, nimmt uns unsere Mutter als ihr Kind an, für das sie sorgt und dessen<br />

Hilfsbedürftigkeit sie als Aufgabe akzeptiert. Schon dass der Vater sich an der Aufgabe der<br />

Kinderaufzucht beteiligt, ist nicht selbstverständlich, aber die Regel. Sozial funktional lässt<br />

sich das daraus verstehen, dass die Mutter, wenn sie für ein Kind zu sorgen hat, nur<br />

eingeschränkt für sich selbst sorgen kann (jedenfalls solange ihr Kind ganz klein ist), so dass<br />

für sie mit gesorgt werden muss – und da Frauen beim Gebären unvertretbar sind, ist es nahe<br />

27 Die metaphysische Begriffsbildung stellt die die endlichen Subjekte prägenden Entwicklungen von Bildung<br />

und Erziehung als Konsequenzen eines Über-Subjekts Geist dar, der in den einzelnen Subjekten nur „zur<br />

Existenz gebracht werde“. Aber Hegel betont, dass „in der philosophischen Ansicht des Geistes als solchen ... er<br />

selbst als nach seinem Begriffe sich bildend und erziehend betrachtet (wird)“ – Enzyklopädie der<br />

philosophischen Wissenschaften, Dritter Teil, Die Philosophie des Geistes, § 387. Nachmetaphysisches<br />

Philosophieren kann Über-Subjekte nicht mehr affirmativ unreduziert in Anspruch nehmen und deswegen besser<br />

auf den eigenen Anteil der Subjekte am ‚zur Existenz bringen’ des Geistes achten.<br />

28 Vgl. Vita activa oder vom tätigen <strong>Leben</strong>, Stuttgart 1960, S. 15.<br />

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