Das Verstandene Leben - Ernst Michael Lange
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existenzial-ontologische an; S. u. Z. 237) deutlich machen, wie es zu Heideggers Theorem<br />
des ‚Vorlaufens zum Tode’ als „Vorlaufen in die Möglichkeit“ kommen kann, das Heidegger<br />
für ein ‚eigentliches Sein zum Tode’ in Anspruch nimmt (S. u. Z. § 53). In dieser Sicht hängt<br />
alles an der Auffassung des <strong>Leben</strong>s als Tätigkeit/Handlung. Diese Auffassung kann durch<br />
eine weitere Überlegung in Perspektive gerückt werden.<br />
Ich habe im Bisherigen angenommen, die Frage und Suche nach Sinn des <strong>Leben</strong>s komme<br />
auf, wenn allgemein verbindliche Überzeugungen von einer Bestimmung des Menschen<br />
schwinden oder geschwunden sind. Die Nachfolger dieser Überzeugungen sind solche von<br />
der erforderlichen Selbstbestimmung des Menschen. Wenn nun aber angenommen wird, dass<br />
die Selbstbestimmung ihrem Gehalt nach Bestimmung bleibt und nur das Subjekt der<br />
Bestimmung wechselt, wenn demgemäß vom selbst bestimmten <strong>Leben</strong> eine analoge<br />
Einheitlichkeit und Ganzheit erwartet wird, wie sie das teleologisch mediatisierte <strong>Leben</strong><br />
vorgeblich haben kann, dann muss das <strong>Leben</strong> als „Entwurf“ und in diesem Sinn Handlung(s)-<br />
analog teleologisch gedacht werden. Da der Tod die äußerste Möglichkeit des Ganz-seinkönnens<br />
des <strong>Das</strong>eins ist (was ich in der angeführten, irreführend pauschalen Passage zu<br />
Beginn den „uneinholbaren Ausstand“ genannt habe; beim Tod ist, wenn auch nur<br />
vorlaufend, alles vollständig, ganz) – wächst ihm auf diese Weise die die Erfahrung des<br />
<strong>Leben</strong>s durchaus strukturierende Funktion zu, die Tugendhat mit den Unterscheidungen der<br />
drei Formen von Todes-Bewusstsein selbst angreift. Über diese teleologisch verzerrende<br />
Sicht kommt man aber hinaus, wenn man das <strong>Leben</strong> weder als Handlung noch auch als<br />
Tätigkeit auffasst, sondern so, wie Tugendhat es gegenüber Nagel fasst – als Vorgegebenheit,<br />
zu der wir (immer wieder, sich ändernd, erst allmählich sich festigend) eine Einstellung<br />
finden müssen. Wir sind im <strong>Leben</strong> tätig und handeln; indem wir im <strong>Leben</strong> tätig sind und<br />
handeln, führen wir unser <strong>Leben</strong>, wie es treffend umgangssprachlich heißt, aber das <strong>Leben</strong><br />
wird dadurch nicht selbst zu einer Tätigkeit oder Handlung. Schon wenn gesagt wird, wir<br />
vollziehen unser <strong>Leben</strong> in Tätigkeiten und Handlungen, ist man an der Schwelle zur<br />
Verzeichnung der Vorgegebenheit des <strong>Leben</strong>s. Erst mit diesem Zug kommt der Umstand in<br />
den Blick, der weiter dagegen spricht, dem Todes-Bewusstsein die existenzphilosophisch<br />
angenommene Funktion zuzusprechen: Todes-Bewusstsein bleibt während eines großen Teils<br />
unseres <strong>Leben</strong> abstrakt (außer in kontingenten Situationen der <strong>Leben</strong>sbedrohung), weil wir<br />
den natürlichen Tod mit einem bestimmten <strong>Leben</strong>salter zu verbinden tendieren und ihn<br />
deshalb im Verlauf unserer <strong>Leben</strong>serfahrung immer weiter heraus zu schieben neigen und<br />
trachten. Ein Kind kann sich nicht vorstellen, Jugendlicher zu sein und hält schon seine<br />
Eltern und alle jenseits ihres <strong>Leben</strong>salters für alt (wie jung sie sein mögen 62 ). Sie sind aber<br />
noch nicht tot, also wird der Tod im kindlichen Bewusstsein noch später als das, was ihm<br />
schon als alt gilt, eingeordnet. Für den Jugendlichen, den jungen Erwachsenen, selbst den<br />
reifen Erwachsenen verschieben sich die Perspektiven entsprechend, auch wenn der Begriff<br />
einer stabileren Ordnung von <strong>Leben</strong>saltern ausgebildet wird. In dieser Ordnung wird der Tod<br />
mit dem <strong>Leben</strong>salter der Alten und Greise verbunden. Und erst mit dem Erreichen dieses<br />
Alters ist ein chronisches Bewusstsein der Todesnähe zu erwarten. Weil sich unsere zeitliche<br />
<strong>Leben</strong>serfahrung in der skizzierten Weise aufbaut und strukturiert, bleibt das Todes-<br />
Bewusstsein während großer Spannen des <strong>Leben</strong>s abstrakt und kann die strukturierende<br />
Rolle nicht spielen, die ihm Existenzphilosophien zugewiesen haben.<br />
IV. Sprache<br />
62 Über mich gibt es eine Familienanekdote, nach der ich zu meiner 28jährigen, nur 20 Jahre älteren Mutter an<br />
ihrem Geburtstag gesagt haben soll: „So alt und noch nicht tot.“<br />
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