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Das zweite Jahr

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Eisen und Blei tun uns keinen Schaden – und Pfeile auch nicht.«<br />

Die Schüsse verhallen, das Feuer wird eingestellt. Da hören die beiden<br />

Reiter ein Rauschen und Brausen vom Lager der Türken her, das rasch<br />

näher kommt. Krabat darf sich nicht umdrehen, während sie durch die Luft<br />

reiten; deshalb bittet er seinen Begleiter zurückzublicken.<br />

Der Marschall berichtet von einem riesigen schwarzen Adler, der sie<br />

verfolge. »Er stößt aus der Höhe herab, die Sonne im Rücken, den<br />

Schnabel auf uns gerichtet!«<br />

Krabat spricht eine Zauberformel: da türmen sich zwischen dem Adler<br />

und ihnen gewaltige Wolken auf, grau und dicht, ein Gebirge von Nebeln.<br />

Der Adler durchstößt es.<br />

»Da!« krächzt der Marschall. »Er setzt zum Sturz an!«<br />

Krabat hat längst begriffen, was für ein Adler das ist, der sie da<br />

verfolgt; es wundert ihn nicht im mindesten, daß er sie anruft.<br />

»Kehrt um!« ruft der Adler, »oder ihr seid des Todes!«<br />

Er ruft es mit einer Stimme, die Krabat kennt. Woher kennt er sie?<br />

Keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen! Auf seinen Wink hin erhebt<br />

sich ein Sturm, der den Adler zurückwirft, ihn wegfegen müßte vom Himmel<br />

wie einen Flederwisch – aber weit gefehlt: der Adler des Sultans ist jedem<br />

Orkan gewachsen.<br />

»Kehrt um!« ruft er. »Gebt euch geschlagen, bevor es zu spät ist!«<br />

»Die Stimme!« denkt Krabat. Nun hat er sie wiedererkannt: Es ist Juros<br />

Stimme, die Stimme des Freundes, mit dem er gemeinsam als<br />

Müllerbursche gedient hat, vor vielen <strong>Jahr</strong>en im Koselbruch.<br />

»Der Adler!« berichtet der Marschall. »Gleich hat er uns eingeholt!«<br />

Plötzlich weiß Krabat auch wieder, wem diese Stimme gehört, die ihm da<br />

ins Ohr krächzt: »Sein Feuerrohr, Musketier! Warum schießt Er das<br />

Ungeheuer nicht einfach ab?«<br />

»Weil ich nichts Goldenes hab, um damit zu schießen.«<br />

Krabat ist froh, denn das stimmt sogar. Doch der Marschall von<br />

Sachsen, oder wer immer da hinter ihm sitzt – der Marschall reißt einen<br />

seiner goldenen Knöpfe vom Waffenrock.<br />

»Steck Er ihn in die Flinte – und schieß Er schon!«<br />

Juro, der Adler Juro, ist nur noch wenige Flügelschläge von ihnen<br />

entfernt. Krabat denkt nicht im Traum daran, ihn zu töten. Er gibt sich den<br />

Anschein, als ob er den goldenen Knopf in den Lauf seiner Büchse stecke:<br />

in Wirklichkeit läßt er ihn aus der Hand gleiten.<br />

»Schieß Er doch!« drängt der Marschall. »Schieß Er doch!«<br />

Ohne den Kopf zu wenden, drückt Krabat die Flinte auf den Verfolger<br />

ab, über die linke Schulter weg: blind, wie er weiß, nur mit Pulver geladen,<br />

ohne den Goldknopf im Lauf.<br />

Der Schuß kracht – und plötzlich ein gellender Todesschrei: »Krabat!<br />

Kra-baa-aaht!«<br />

Krabat erschrickt, läßt die Flinte fallen; dann schlägt er die Hände vor<br />

das Gesicht und weint.<br />

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