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Das zweite Jahr

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Wer war es, der da geschrien hatte in höchster Todesnot?<br />

Krabat besann sich nicht lange. Mit einem Satz war er auf den Beinen.<br />

Er rannte zur Bodentür, wollte sie aufreißen, wollte die Treppe<br />

hinuntereilen, um nachzusehen.<br />

Die Tür war von draußen verriegelt. Sie ließ sich nicht öffnen, so wild er<br />

auch daran rüttelte.<br />

Jemand legte ihm dann den Arm um die Schulter und sprach ihn an. Es<br />

war Juro, der dumme Juro, Krabat erkannte ihn an der Stimme.<br />

»Komm«, sagte Juro. »Leg dich jetzt wieder auf deinen Strohsack.«<br />

»Aber der Schrei!« keuchte Krabat. »Der Aufschrei vorhin!«<br />

»Meinst du«, erwiderte Juro, »wir hätten ihn nicht gehört?«<br />

Damit führte er Krabat an seinen Platz zurück.<br />

Die Mühlknappen hockten auf ihren Pritschen. Schweigend, mit großen<br />

Augen starrten sie Krabat an. Nein – nicht Krabat! Sie starrten an ihm<br />

vorbei, auf den Schlafplatz des Altgesellen.<br />

»Ist – Tonda nicht da?« fragte Krabat.<br />

»Nein«, sagte Juro. »Leg dich jetzt wieder hin und versuch zu schlafen.<br />

Und heul nicht, hörst du! Mit Heulen macht man nichts ungeschehen.«<br />

Am Neujahrsmorgen fanden sie Tonda. Mit dem Gesicht nach unten<br />

lag er am Fuß der Bodenstiege. Die Mühlknappen schienen nicht<br />

überrascht zu sein; nur Krabat vermochte es nicht zu fassen, daß Tonda tot<br />

war. Schluchzend warf er sich über ihn, rief ihn beim Namen und bettelte:<br />

»Sag doch was, Tonda, sag doch was!«<br />

Er griff nach der Hand des Toten. Gestern noch hatte er sie gespürt,<br />

auf der Stirn, vor dem Einschlafen. Jetzt war sie starr und kalt. Und sehr<br />

fremd war sie ihm geworden, sehr fremd.<br />

»Steh auf«, sagte Michal. »Wir können ihn hier nicht liegen lassen.«<br />

Er und sein Vetter Merten trugen den Toten in die Gesindestube und<br />

legten ihn auf ein Brett.<br />

»Wie ist es dazu gekommen?« fragte der Junge.<br />

Michal zögerte mit der Antwort.<br />

»Er hat sich«, sagte er stockend, »den Hals gebrochen.«<br />

»Dann ist er wohl – auf der Treppe fehlgetreten – im Finstern ...«<br />

»Kann sein«, sagte Michal.<br />

Er drückte dem Toten die Augen zu, schob ihm ein Bündel Stroh in den<br />

Nacken, das Juro geholt hatte.<br />

Tondas Gesicht war fahl. »Wie aus Wachs«, dachte Krabat. Er konnte<br />

nicht hinsehen, ohne daß ihm die Tränen kamen. Andrusch und Staschko<br />

brachten ihn in den Schlafraum.<br />

»Laß uns hierbleiben«, meinten sie. »Unten stünden wir bloß im Weg<br />

herum.«<br />

Krabat hockte sich auf den Rand der Pritsche. Er fragte, was nun mit<br />

Tonda geschehen werde.<br />

»Was eben so geschieht«, sagte Andrusch. »Juro versorgt ihn, der tut<br />

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