15.11.2012 Aufrufe

Das zweite Jahr

Das zweite Jahr

Das zweite Jahr

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

»Krabat!« gellt es ihm in den Ohren. »Kra-baa-aaht!«<br />

Krabat fuhr stöhnend hoch. Wie kam es, daß er mit einem Mal hier am<br />

Tisch saß – mit Andrusch und Petar und Merten und allen anderen? Wie sie<br />

ihn anstarrten, bleich und verschreckt – und wie jeder sofort den Blick<br />

senkte, wenn er merkte, daß Krabat zu ihm herübersah!<br />

Der Meister saß wie ein Toter an seinem Platz, weit zurückgelehnt,<br />

schweigend, als lauschte er in die Ferne.<br />

Auch Juro rührte sich nicht. Er lag mit dem Oberkörper über dem Tisch,<br />

das Gesicht nach unten, die Arme von sich gespreizt: Adlerschwingen vor<br />

wenigen Augenblicken noch, rauschende Fittiche. Neben Juro ein<br />

umgeworfener Becher. Ein Fleck auf der Tischplatte, dunkelrot: Wein oder<br />

Blut?<br />

Lobosch warf sich mit einem Aufschluchzen über Juro hin. »Er ist tot,<br />

er ist tot!« rief er. »Krabat, du hast ihn umgebracht!«<br />

Krabat spürte ein Würgen im Hals, er riß sich mit beiden Händen das<br />

Hemd auf.<br />

Da sah er, wie Juro den einen Arm bewegte – und dann den anderen.<br />

Langsam, so schien es, kehrte das Leben in seinen Körper zurück. Er<br />

stützte sich auf die Hände, er hob das Gesicht – einen kreisrunden roten<br />

Fleck auf der Stirn, zwei Finger breit über der Nasenwurzel.<br />

»Juro!« Der kleine Lobosch packte ihn bei den Schultern. »Du lebst ja<br />

noch, Juro – du lebst ja!«<br />

»Was dachtest du denn?« meinte Juro. »Wir haben die Sache doch<br />

nur gespielt. Bloß: der Schädel brummt mir von Krabats Schuß, das<br />

nächste Mal mag ein anderer diesen Jirko machen, mir reicht's, ich geh<br />

schlafen.«<br />

Die Mühlknappen lachten erleichtert auf, und Andrusch sprach aus,<br />

was sie alle dachten: »Geh du nur schlafen, Bruder, geh du nur!<br />

Hauptsache, daß du es überstanden hast!«<br />

Krabat saß wie versteinert am Tisch. Der Schuß und der Schrei – und<br />

der fröhliche Trubel auf einmal: wie reimte sich das zusammen?<br />

»Aufhören!« fuhr der Meister dazwischen. »Aufhören, ich ertrag das<br />

nicht, setzt euch nieder und schweigt!« Er war aufgesprungen, er stützte<br />

sich mit der einen Hand auf den Tisch, mit der anderen hielt er den Becher<br />

umspannt, als wollte er ihn zermalmen. »Was ihr gesehen habt«, rief er,<br />

»es ist nur ein Alptraum gewesen, aus dem man erwacht – und dann hat<br />

sich das ... Ich aber hab die Geschichte mit Jirko nicht geträumt, damals in<br />

Ungarn: Ich hab ihn erschossen! Ich hab meinen Freund getötet, ihn töten<br />

müssen – wie Krabat es auch getan hat, wie jeder von euch es an meiner<br />

Stelle getan hätte, jeder!«<br />

Er hieb mit der Faust auf den Tisch, daß die Becher tanzten, er griff<br />

nach dem Weinkrug und trank daraus, ungestüm, gierig. Dann warf er den<br />

Krug an die Wand und schrie: »Geht jetzt! Hinaus mit euch, alle hinaus da!<br />

Ich will allein sein – allein – allein!«<br />

128

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!