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The Red Bulletin Juni 2015 - DE

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READ BULL<br />

Lichtbogen<br />

Von Christoph Ransmayr<br />

MAGDALENA WEYRER CHRISTOPH RANSMAYR © 2012 S. FISCHER VERLAG GMBH, FRANKFURT AM MAIN<br />

Christoph Ransmayr<br />

Geboren 1954 in Wels, Oberösterreich, studierte Philosophie<br />

und Ethnologie, arbeitete als Journalist und Autor. Seit 1982<br />

freier Schriftsteller. Im Roman „Die Schrecken des Eises und<br />

der Finsternis“ (1984) zeigte er erstmals seine Gabe, historische<br />

Tatsachen und Fiktion faszinierend zu verschmelzen.<br />

Gerne experimentiert Ransmayr auch mit verschiedenen<br />

Spielformen des Erzählens.<br />

„Der fliegende Berg“ (2006),<br />

erschienen in Versform, ist ein<br />

Werk, zu dem sich Ransmayr von<br />

seinem Freund Reinhold Messner<br />

inspirieren ließ. Für seine Bücher,<br />

die bisher in mehr als dreißig<br />

Sprachen übersetzt wurden,<br />

erhielt Ransmayr zahlreiche<br />

literarische Auszeichnungen.<br />

Er lebt nach Jahren in Irland und<br />

auf Reisen nun wieder in Wien.<br />

Ich sah ein wanderndes Licht auf einem der<br />

ungeheuren Stahlbögen der Harbour Bridge in der<br />

Bucht von Sydney. Nur ein Funke unter Myriaden<br />

anderen bewegten und unbewegten, strahlenden,<br />

fließenden oder glimmenden Lichtern der größten<br />

Stadt des australischen Kontinents, stieg dieses eine,<br />

winzige Licht wie ein Stern am Rande der Sichtbarkeit<br />

langsam höher und dem Scheitel des Brückenbogens entgegen,<br />

der himmelhoch über dem ruhigen Wasser der Hafeneinfahrt<br />

lag.<br />

Ich stand am Fenster eines Hotelzimmers im neunzehnten<br />

Stockwerk und hatte eben das Wahrzeichen der Stadt, die kostbar<br />

schimmernde Muschel des Opernhauses, im Fernglas betrachtet,<br />

war dann zu hell erleuchteten Wolkenkratzern, Glastürmen von<br />

Banken, Handelshäusern und Versicherungen geschwenkt, auf<br />

die der Bogen der Harbour Bridge über die Bucht hinweg zuzuspringen<br />

schien – als ich dieses aufsteigende Licht bemerkte. Es<br />

verschwand im Höherkriechen manchmal für einen Augenblick,<br />

kehrte zurück. Das mußte ein Mensch sein, ein Mensch, der den<br />

Kegel seiner Taschen- oder Stirnlampe seinen Bewegungen entsprechend<br />

dahin und dorthin lenkte. Er kletterte einen Stahlbogen<br />

hoch, dessen Scheitel einhundertvierunddreißig Meter<br />

über dem Wasserspiegel lag: Ein im Hotelzimmer ausliegender<br />

Faltprospekt hatte das Panorama, das sich von der Dachterrasse<br />

des Hotels und noch aus dem Fenster meines Zimmers bot, mit<br />

Namen und Zahlen beschrieben.<br />

Einhundertvierunddreißig Meter. Wer auf einem Brückenbogen<br />

in diese Höhe kletterte, allein und in der Finsternis, setzte<br />

sein Leben aufs Spiel oder wollte es beenden. Wer aus dieser<br />

Höhe in die Tiefe sprang, fiel in den sicheren Tod und brauchte<br />

weder die Rettung noch die Hilflosigkeit eines Krüppels nach<br />

einem gegen alle Wahrscheinlichkeit überlebten Sturz zu fürchten.<br />

Wollte der Mensch dort sterben?<br />

Der Lichtfunke zitterte in meinem Fernglas, zitterte im<br />

Rhythmus meines Herzschlags, meiner Atemzüge. Aber selbst<br />

als ich mein Glas am Panoramafenster stabilisierte, das der<br />

Klimaanlage oder auch einer dem Lebenswillen der Gäste mißtrauenden<br />

Vorsichtsmaßnahme wegen nicht zu öffnen war, blieb<br />

der Kletterer kaum mehr als ein insektenhaft winziger Schatten,<br />

den allein sein schwaches, verschwindendes und wieder aufflackerndes<br />

Licht verriet.<br />

Ich war müde, zerschlagen vom endlosen Interkontinentalflug<br />

in einer bis auf den letzten Platz besetzten, überheizten<br />

Maschine und hatte, endlich ausgestreckt und geborgen in einem<br />

Hotelbett, doch keinen Schlaf gefunden. Bereits zum dritten Mal<br />

hatte ich das Licht wieder angedreht, nach der ersten der beiden<br />

Rotweinflaschen der Minibar auch noch die zweite geöffnet und<br />

hatte in der Hoffnung auf die einschläfernde Wirkung des Fernsehens<br />

Showmaster, Kommentatoren und schreiende Prediger<br />

THE RED BULLETIN 97

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