09.06.2015 Aufrufe

The Red Bulletin Juni 2015 - DE

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

READ BULL<br />

„Ich war allein mit<br />

dem Unerreichbaren.“<br />

erscheinen und wieder verschwinden lassen, Kleinfamilien in<br />

idyllischer Landschaft, die ihr Glück allein einer Schokolade,<br />

einem Shampoo oder einem Waschmittel verdankten, Soldaten<br />

verschiedener Armeen, Wildtiere, Zeichentrickmonster, Politiker,<br />

schließlich Pornodarsteller und Wetterkarten – und war doch<br />

nicht und nicht eingeschlafen.<br />

Kletterte, kroch dieser Mensch über den Brückenbogen tatsächlich<br />

dem Ende seiner Welt entgegen? Was war an seinem<br />

Leben zu einer solchen Qual geworden, daß kein anderer Weg<br />

mehr blieb als der in den freien Fall?<br />

Ich starrte durch das Fernglas, jetzt seltsam überzeugt, daß,<br />

was ich sah, tatsächlich ein letzter Weg war. Aber was sollte<br />

ich in meinem weißen Bademantel tun, was dem Rezeptionisten<br />

sagen, wenn ich ihm ein Licht im Panorama vor meinem<br />

Fenster beschrieb: Ich sehe einen Funken im Fernglas, gewiß<br />

ein Mensch, der von der Harbour Bridge springen will, rufen Sie<br />

die Feuerwehr, die Polizei, rufen Sie irgendeinen Notdienst in<br />

Brückennähe, rufen Sie irgend jemanden, der diesen Lebensmüden<br />

retten kann?<br />

Das wandernde Licht schien plötzlich weit, unendlich weit<br />

entfernt – so weit und unerreichbar wie die Toten und Sterbenden<br />

auf einem Fernsehschirm, über den Bilder aus Kriegs- und Katastrophengebieten<br />

flackerten. Das Licht würde den Scheitel des<br />

Bogens erreichen, sich von der Stahlkonstruktion lösen und<br />

lautlos in die Tiefe stürzen, noch bevor ein Rezeptionist, ein<br />

Feuerwehrmann, ein Retter, irgendeiner außer mir, es auch<br />

nur bemerkte. Ich war allein mit dem Unerreichbaren. Wie ein<br />

zufälliger Passant, der einen Baum unter dem Winddruck oder<br />

auch bloß ein Blatt fallen sieht, stand ich an meinem versiegelten<br />

Fenster und wartete, daß das Unvermeidliche geschah – als die<br />

Stadt plötzlich zu erlöschen begann.<br />

Sydney erlosch!, erlosch, als müßte mit diesem einen<br />

Menschen auf dem Stahlbogen der Brücke die ganze Welt untergehen:<br />

Die erleuchteten Wolkenkratzer, fünfzig, sechzig, achtzig<br />

Stockwerke hoch, erloschen – die unteren Etagen zuerst,<br />

dann schoß die Finsternis nach oben, bis sie auch die Penthouses<br />

verhüllte, die Restaurants und Aussichtsplattformen der<br />

Dachgeschosse und selbst das an den höchsten Turmspitzen<br />

wuchernde Antennengestrüpp. Und es erloschen die Leuchtfeuer<br />

der Reklameschriften, die Häuserzeilen, die Highways … Die<br />

Lichtmuschel der Oper erlosch. Die Harbour Bridge war nur noch<br />

ein schwarzer Bogen, der mehrspurige Autokolonnen überspannte,<br />

letzte verbliebene Lichtstränge, die Sydneys finstere<br />

Nord- und Südküste miteinander vernähten.<br />

Am Nachthimmel begannen die von der Stadt eben noch<br />

überstrahlten Sternbilder der südlichen Hemisphäre zu<br />

erscheinen, der Kentaur, das Segel, das Kreuz des Südens, der<br />

Wolf … und auch das Licht auf dem Brückenbogen wurde in der<br />

plötzlichen Dunkelheit heller, klarer, hielt kurz inne, als müßte<br />

es sich besinnen, welcher Konstellation es sich als Stern unter<br />

Sternen anschließen wollte, und stieg dann beharrlich höher.<br />

Vielleicht lag es an meiner schlaflosen Müdigkeit, vielleicht<br />

auch am Rotwein, daß ich diese Finsternis, die sich wie eine<br />

Explosion ausgebreitet hatte – sie sollte als einer der katastrophalsten<br />

Stromausfälle in die Chronik Sydneys eingehen –, so<br />

selbstverständlich empfand wie das Dunkel eines Zimmers, in<br />

dem das Licht abgedreht worden war. Vielleicht nahm ich die<br />

Verfinsterung aber auch nur beiläufig wahr, weil meine ganze<br />

Aufmerksamkeit einem Licht gehörte, das im nächsten Augenblick<br />

fallen und für immer erlöschen konnte.<br />

Jetzt hatte es den Scheitel des Brückenbogens erreicht und<br />

wanderte, schwebte, ohne innezuhalten, über ihn hinweg. Und<br />

begann dann langsam wieder zu sinken. Es sprang nicht, stürzte<br />

nicht, sondern sank den schwarzen Promenaden der Südküste<br />

entgegen, an der nicht die Unterwelt wartete, sondern bloß eine<br />

in Dunkelheit gehüllte Stadt.<br />

Am nächsten Tag sollte ich neben Einzelheiten zum<br />

großen Stromausfall auch erfahren, daß ein Weg über<br />

den Brückenbogen als besondere Form einer Stadtbesichtigung<br />

auch kurzfristig gebucht werden konnte – professionelle<br />

Guides führten möglichst schwindelfreie, möglichst<br />

trittsichere, mit Seilen und Klettergurten ausgerüstete Touristen<br />

über den Brückenbogen. Aber natürlich nicht in der Nacht,<br />

selbstverständlich nicht in der Nacht. Auch der Rezeptionist<br />

hatte keine Erklärung für mein wanderndes Licht.<br />

Aber selbst wenn, was ich gesehen hatte, bloß die Stirnlampe<br />

eines Technikers gewesen war, eines Statikers auf seinem<br />

Kontrollgang oder eines Fotografen, der mit einer Sondergenehmigung<br />

der Stadtverwaltung an Nachtbildern arbeitete,<br />

blieb davon unberührt, daß ich als ratloser, vom scheinbar<br />

Unvermeidlichen gebannter Zeuge an einem Panoramafenster<br />

mitverfolgt hatte, wie ein Licht in einer von Lichtern durchsiebten<br />

Nacht empor- und dem Tod entgegengestiegen, dann<br />

aber in einer rasenden, alles verschlingenden Verfinsterung<br />

wieder ins Leben zurückgesunken war.<br />

READ BULL<br />

Lesevergnügen im <strong>Red</strong> <strong>Bulletin</strong>: Jeden Monat widmet ein<br />

namhafter Autor unseren Lesern eine Kurzgeschichte.<br />

Diesmal ist es der Österreicher Christoph Ransmayr;<br />

der Text ist mit freundlicher Genehmigung seinem Buch<br />

„Atlas eines ängstlichen Mannes“ (S. Fischer Verlag)<br />

entnommen. Ransmayrs aktuelles Werk „Gerede. Elf<br />

Ansprachen“ ist ebenfalls bei S. Fischer erschienen.<br />

98 THE RED BULLETIN

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!