TitelthemaDagegen ergeben sich die Bedenken, die man bereits gegen originäre Ansprücheaus dem Sozialstaatsprinzip anführen kann. Insbesondere ragt hier derrechtsstaatliche Vorrang des Gesetzes hervor, wonach die Bestimmung vonInhalt <strong>und</strong> Umfang originärer Leistungsansprüche, zumindest nicht gänzlich,den Gerichten überlassen werden könne. Soziale Gr<strong>und</strong>rechte sind genausowenig justiziabel wie das Sozialstaatsprinzip. 62 <strong>Die</strong> Konkretisierung ist einepolitische Aufgabe des Gesetzgebers, darunter auch eine angemessene Haushaltspolitik,die nicht bereits im vorhinein festgelegt sein kann 63 . EineGeltendmachung sozialer Leistungsansprüche würde ebenso gegen den Bestimmtheitsgr<strong>und</strong>satzverstoßen, da Art. 20 Abs. 1 GG für eine solcheAuslegung zu unkonkret ist. Johannes <strong>Die</strong>tlein kommt daher in seiner umfassendenDissertation zu den „Gr<strong>und</strong>rechtlichen Schutzpflichten“ zu folgenderEinschätzung:„<strong>Die</strong> sozialstaatliche Argumentation erscheint (...) zur Begründung eines subjektivenVerfassungsrechts auf Schutz wenig überzeugend <strong>und</strong> ist als kaumverhohlener ,Kompromiss’ praeter legem abzulehnen.“ 64V. KOMPROMISSVORSCHLÄGEExtrempositionen zur Justiziabilität „sozialer Gr<strong>und</strong>rechte“ – vollumfänglichebzw. nicht vorhandene Justiziabilität – sind somit sicherlich nicht tragbar.Kompromissvorschläge zwischen objektivrechtlichem Prinzip <strong>und</strong> subjektivemAnspruch existieren aber viele. Robert Alexy plädiert für eine Abwägungvon faktischer Freiheit <strong>und</strong> Rechtsstaatlichkeit. Demnach könne ein originärerLeistungsanspruch dann angenommen werden, wenn das „Prinzip derfaktischen Freiheit“ dies sehr dringend fordert <strong>und</strong> dadurch das Rechtsstaatsprinzip<strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>rechte anderer in „relativ geringem Maße beeinträchtigt“werden 65 . <strong>Die</strong>se These hilft selbstverständlich nicht viel weiter, wenn es umEinzelfälle geht. Hier müssen Gr<strong>und</strong>rechte unter dem Gr<strong>und</strong>satz der praktischenKonkordanz gegeneinander abgewogen werden. Problematisch anAlexy ist weiterhin, dass er originäre Leistungsrechte hier als Ansprüche dargestellt.Vielmehr stellt aber die Konkretisierung der Gr<strong>und</strong>rechte in sozialstaatlicherInterpretation eine Verpflichtung des Gesetzgebers dar. UnmittelbareAnsprüche können daher wohl in keinem Falle ohne gesetzlicheGr<strong>und</strong>lage begründet werden. Das BVerfG hat diese Frage in seiner Numerusclausus-Entscheidungausdrücklich offen gelassen. <strong>Die</strong> Argumentation istaber eher dahin zu deuten, dass ein subjektiver Anspruch auf staatliche Leistungenzur Kapazitätserweiterung oder Neuschaffung, <strong>und</strong> damit auf sozialeGr<strong>und</strong>rechte, nicht besteht 66 . Mit dem Prinzip der Gewaltenteilung, dem Demokratieprinzip<strong>und</strong> dem „Vorbehalt des Möglichen“ 67 stehen entscheidendeArgumente gegen eine mögliche Justiziabilität unmittelbarer subjektiver Ansprüche.Angesichts der enormen Bedeutung von Sozialpolitik steht der Gesetzgeberohnehin unter demokratischer Kontrolle, sodass ein Regress auf dasSozialstaatsgebot nicht erforderlich zu werden scheint. Es bleibt dabei, dass„richterlich ermittelte punktuelle Fallentscheidungen der Gerichte“ nicht inBetracht kommen 68 . Hier muss eine andere Kategorie geschaffen werden, dieden sozialen Gr<strong>und</strong>rechten <strong>und</strong> dem Rechtsstaatsprinzip gemeinsam Rechnungträgt.E. EIN „SOZIALSTAATLICHES UNTERMASSVERBOT“Um ein Mindestmaß an „Sozialstaat“, vergleichbar der Wesensgehaltsgarantiein Art. 19 Abs. 3 GG, zu gewährleisten, kann auf die Kategorie des Untermaßverboteszurückgegriffen werden 69 . Das Untermaßverbot wurde vom BVerfGim zweiten Abtreibungsurteil 70 fortentwickelt. Dabei geht es um ein Minimum,das der Staat bei der Beachtung seiner staatlichen Schutzpflichten zuerfüllen hat 71 . Wird auch das Sozialstaatsprinzip häufig von der rechtlichenauf die politische Ebene geschoben 72 , so bleibt zu betonen: „<strong>Die</strong> Sozialstaatsklauselstellt bindendes Recht <strong>und</strong> nicht lediglich einen Programmsatz dar.“ 73Ein Kernbereich an Sozialstaat muss daher effektiv geschützt werden. <strong>Die</strong>szeigt sich zum Beispiel bei der Entscheidung des BVerfG zum Kindergeld 74 :„Zwingend ist (...), dass der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdigesDasein seiner Bürger schafft.“Aus dem Sozialstaatsprinzip lassen sich, meist in Verbindung mit einzelnenGr<strong>und</strong>rechten, konkrete Gebote bzw. „Sozialpflichten“ an den Gesetzgeberableiten, die dieser umzusetzen hat <strong>und</strong> wohl auch zum jetzigen Zeitpunktrecht umfänglich erfüllt hat. Den Gerichten obliegt es das „Ob“ der „Sozialpflichten“– nicht der Sozialansprüche – festzustellen, der Gesetzgeber regeltdas „Wie“ <strong>und</strong> normiert damit Sozialansprüche.In einigen Bereichen haben oberste B<strong>und</strong>esgerichte bereits den „Kernbereich“des Sozialstaatsgebots in Verbindung mit einzelnen Gr<strong>und</strong>rechten umrissen.Konkrete Ausprägungen hat bzw. hätte der Gesetzgeber umzusetzen in folgendenFällen 75 :• Subventionierung privater Ersatzschulen (Art. 7 Abs. 4 GG) 76 ,• Schutz besonders benachteiligter Gruppen (Kriegsopfer, <strong>junge</strong> Waisen) 77 ,• Sicherung eines Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 iVm Art. 2 II Abs. 2, Abs.1 GG) 78 ,• Gewährleistung der Mindestausstattung eines Hochschullehrers für seinewissenschaftliche Tätigkeit,• Anliegergebrauch des Gr<strong>und</strong>stückseigentümers von für die Nutzung erforderlichenStraßen.<strong>Die</strong> Kernaufgaben des Sozialstaates sind noch weiter (Ausbildung, Arbeitsmarkt,Arbeitsrecht) 79 , müssen aber nicht zwingend (nur) unmittelbar durchden Staat wahrgenommen werden 80 .Um diesen „Kernbereich“ bzw. „Wesensgehalt“ zu erfassen, lässt sich die Lehrevom sog. Untermaßverbot befruchten 81 . Ein „sozialstaatliches Untermaß“wird dem Sozialstaatsprinzip dogmatisch um einiges gerechter als die Vorschlägevon Robert Alexy (Abwägungsmodell) oder Rüdiger Breuer (originäreLeistungsrechte soweit zur Erhaltung gr<strong>und</strong>rechtlicher Freiheit notwendig)82 , die die spezifische „Sozialpflicht“ des Gesetzgebers verkennen bzw.über das Ziel hinausschießen. Das Untermaßverbot dient einer ersten Einschätzung,nicht der Entscheidung im Einzelfall. Anknüpfend an die <strong>Die</strong>tlein-Hain- Kontroverse 83 wird man – <strong>und</strong> hier hat Johannes <strong>Die</strong>tlein Recht – eine(vollumfängliche) Kongruenz von Untermaßverbot <strong>und</strong> Übermaßverbot(Verhältnismäßigkeitsprinzip) verneinen können. Bei beiden Verboten gehtes zwar um den Eingriff in Rechte <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>rechte einzelner; das Untermaßverbotverfolgt aber die Verwirklichung von Zielen <strong>und</strong> Schutzpflichten mit136<strong>Iurratio</strong>Ausgabe 3 / 2010
TitelthemaVerfassungsrang 84 <strong>und</strong> wehrt darüber hinaus Beeinträchtigungen ab, die inder Regel nicht das Niveau von Gr<strong>und</strong>rechten erreichen wie beim Übermaßverbot.Daher ist ein Durchgreifen im Kernbereich auch umso bedeutender,wenn nicht die unausweichliche Folge aus der Verfassung. Für das Sozialstaatsprinzipergibt sich dasselbe.Wenn man mit einem sozialstaatlichen Untermaßverbot „Ernst“ machenmöchte, wird man in Hinblick auf das Erforderlichkeitskriterium des Untermaßverbotsformulieren müssen: <strong>Die</strong> Mittel zur Umsetzung eines sozialstaatlichen„Kernbereiches“ sind dann ausreichend, wenn es kein geeigneteres bzw.effektiveres Mittel gibt, das sich bei Abwägung mit betroffenen Gr<strong>und</strong>rechtenals verhältnismäßig darstellt.<strong>Die</strong> Formulierung zeigt bereits, dass auch das Untermaßverbot ein wenighinkt. Hierbei müssen auch – jeweils im Einzelfall – der Gestaltungsspielraumdes Gesetzgebers sowie der „Vorbehalt des Möglichen“ beachtet werden.Will man das Sozialstaatsprinzip allerdings nicht zum bloßen Programmsatzverkommen lassen, so wird man subsidiär ein sozialstaatliches Untermaßverbotheranziehen <strong>und</strong> konkret die Verwirklichung einschlägiger Schutzpflichten<strong>und</strong> Leistungsrechte prüfen müssen. <strong>Die</strong>s kann dann auch theoretisch,wenn auch praktisch wenig denkbar, zur Reduktion des legislativen Gestaltungsermessens„auf Null“ führen 85 . Ob in dem Fall, wenn selbst ein „Mindestmaß“an sozialen Garantien ausbleibt, ein individueller Anspruch, unabhängigvon gesetzgeberischen Maßnahmen, begründet wird, ist weiterhinstrittig 86 , aber ohne praktische Relevanz. <strong>Die</strong> Maßgabe des sozialstaatlichenUntermaßverbotes stellt einen Fortschritt zur ehemalig praktizierten „Evidenzkontrolle“des BVerfG 87 dar, wenn sie auch, wie das BVerfG selbst attestiert88 , nicht alle Probleme lösen kann. Insoweit bleiben Bedenken an der Profilierungdes Untermaßverbotes, wie sie Johannes <strong>Die</strong>tlein bereits anbrachte 89 ,weiterhin bestehen. Einen besseren Weg zur Konkretisierung der verfassungsrechtlichenAnforderungen an den Sozialstaat gibt es aber unseres Erachtensnicht. 9062Alexy, aaO, 459.63Nachweise bei Heintschel von Heinegg/ Haltern, JA 1995, 340 Fn. 101.64Schutzpflichten, 161.65Alexy, aaO, 465f.66So auch Heintschel von Heinegg/ Haltern, JA 1995, 341.67Zippelius/ Würtenberger, aaO, 23.68Vgl. Heintschel von Heinegg/ Haltern, JA 1995, 342.69Dazu Isensee, in: HStR V, 1992, § 111, Rn. 165.70BVerfGE 88, 203 (254); BVerfG, NJW 1995, 2343 – eine abschließendeKlärung steht noch aus.71Manssen, Staatsrecht II, 6. Aufl., Rn. 52.72Vgl. Schnapp, JuS 1998, 874.73Heintschel von Heinegg/ Haltern, ebd.74BVerfGE 82, 60 (80).75Murswiek, aaO, § 112; Schreiber, passim; Bieback, Jura 1987, 234ff.;Denck, MDR 1990, 281; ausführlich Breuer, Gr<strong>und</strong>rechte als Quelle positiverAnsprüche, Jura 1979, 401ff. (404ff.).76BVerwGE 27, 360 (363f).77Vgl. Bieback, aaO, 665.78BVerwGE 1, 159; 52, 346; BVerfGE 43, 13 (19); 82, 60 (80); 87, 153 (169);99, 216 (233); neulich: 115, 25.79Vgl. Krause, aaO, 352.80Ipsen, aaO, Rn. 1005; Badura, DÖV 1989, 493; BVerfGE 22, 180 (204).81Zur Sinnhaftigkeit des Untermaßverbotes: J. <strong>Die</strong>tlein, Das Untermaßverbot,ZG 1995, 131ff. mwN; Hain, DVBl. 1993, 982ff; ders., Das Untermaßverbotin der Kontroverse. Eine Antwort auf <strong>Die</strong>tlein, ZG 1996, 75ff. Ansätzedazu bereits bei J. <strong>Die</strong>tlein, Examinatorium, 21f.; Gröpl, aaO, Rn.581.82Breuer, in: Bachof/ Heigl/ Redeker (Hrsg.), Festgabe aus Anlaß des 25jährigenBestehens des B<strong>und</strong>esverwaltungsgerichts, 1978, 89ff (93ff).83Vgl. Fn. 81; Hain legt wohl mitunter (ZG 1996, 79) andere Maßstäbe andas Verhältnismäßigkeitsprinzip. Was aber bei ihm zunächst befürchtetwurde, nämlich die Einschränkung legislativer Gestaltungsspielräume,führt letztlich mangels klarer Abgrenzungen zu wenig Bindung des Gesetzgebersan das Untermaßverbot.84J. <strong>Die</strong>tlein, ZG 1995, 136: „eine das konkrete Gesetz transzendierende,von dessen Zielkonzeption gr<strong>und</strong>sätzlich unbeeinflußte <strong>und</strong> unmittelbarauf das Verfassungsrecht bezogene Größe“.85Vgl. Scherzberg, DVBl. 1989, 1128 (1134); J. <strong>Die</strong>tlein, ZG 1995, 140.86So wohl BVerwG, DÖV 1978, 616: „möglicherweise (...) ein verfolgbarerAnspruch“; ähnlich BVerfGE 1, 105: „möglicherweise dem Einzelnen hierausein mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbarer Anspruch erwachsen“.Vgl. auch Heinig, Sozialstaat, 591: „In den einzelnen Gr<strong>und</strong>rechten i. V. m.Art. 20 Abs. 1 GG verankerte Ansprüche auf freiheitsfunktionale sozialeMinima bilden deshalb primär Ansprüche auf gesetzgeberisches Tätigwerden.Nur im äußersten Notfall, d. h. wenn effektiver Rechtsschutz andersnicht zu erlangen ist, ist die dritte Gewalt funktionalrechtlich befugt, demeinzelnen im Durchgriff auf die Verfassung das Recht auf eine konkreteLeistung zuzusprechen.“87BVerfG, NJW 1988, 1651 (1653); dazu J. <strong>Die</strong>tlein, Schutzpflichten, 111ff.88Vgl. BVerfG, NJW 1995, 2343.89J. <strong>Die</strong>tlein, Untermaßverbot, 141; ders., Schutzpflichten, III.90Auch die neuere Untersuchung von Heinig kommt zu keinem neuenKonkretisierungsvorschlag.<strong>Iurratio</strong>Ausgabe 3 / 2010137