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Die Zeitschrift für stud. iur. und junge Juristen - Iurratio

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TitelthemaHier konkurrieren zwei Ansätze. Regulierung als Instrument des Gewährleistungsstaateszu sehen <strong>und</strong> den Einsatz von Regulierungsrecht als Wahrnehmungder staatlichen Gewährleistungsverantwortung zu begreifen, entsprichtdem oben angesprochenen Verständnis einer übergreifenden, den Wettbewerban Gemeinwohlzielen ausrichtenden Verantwortung: Der Staat gewährleistetbestimmte Regulierungsergebnisse, welche der Wettbewerb hervorbringensoll. Dagegen lässt sich freilich nicht nur die gebotene Entwicklungsoffenheitdes Wettbewerbs einwenden. Auch das Erkenntnisproblem bleibt.Woher soll die Verwaltung wissen, welche Ergebnisse die richtigen sind? Werden Wettbewerb als Entdeckungsverfahren versteht, wird den Gewährleistungsstaatweniger zur wohlfahrtsmaximierenden Ordnung von Regulierungberufen sehen, sondern als dessen Resultat begreifen.Insoweit kann von einem Marktgewährleistungsrecht gesprochen werden,das mit der Einbeziehung der Marktteilnehmer in die Regelungsstruktur zueiner Verschleifung von Markt <strong>und</strong> Regulierung beiträgt. 27 <strong>Die</strong> Regulierungsentscheidungwird nicht im Detail legislativ vorprogrammiert, sondern unterBeachtung ökonomischer Parameter des Marktgeschehens administrativ hergestellt.Das hat Konsequenzen. Nicht nur, dass hier ein Gr<strong>und</strong> für die relativeUnabhängigkeit der B<strong>und</strong>esnetzagentur zu sehen ist. 28 <strong>Die</strong> Herausnahme derRegulierungsbehörde aus den vor allem durch das Weisungsrecht gekennzeichnetenSteuerungszusammenhängen der hierarchisch organisierten Ministerialverwaltungist europarechtlich gewollt, wenn auch nicht gefordert 29<strong>und</strong> wird durch die Begrenzung der gerichtlichen Kontrolldichte von Regulierungsentscheidungen– etwa im Bereich der Zugangs- <strong>und</strong> Entgeltregulierungnach §§ 21, 30 TKG 30 – flankiert. Nimmt man die neuere, aber nicht unangefochteneRechtsprechung des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts zur Reichweiteder gr<strong>und</strong>rechtlichen Wettbewerbsfreiheit 31 hinzu, drängt sich der Verdachtauf, eine demokratisch bedenkliche Entpolitisierung zugunsten einer fachlichenVernetzung der Exekutiven gehe mit rechtsstaatlich nicht weniger problematischenEntrechtlichungen einher.Eine wichtige Implikation dieses engeren, auf die Marktkoordination gerichtetenVerständnisses von Gewährleistungsrecht ist, dass sich mit der Gewährleistungsverantwortungdes Staates auch deren Ausformung durch die Regelungenzu Universaldiensten (z.B. §§ 78 ff. TKG) in die Regelungsstrukturverschiebt. Damit wird das Gewährleistungsprogramm abhängig von den Bedingungenmarktlicher Koordination: Als Universaldienst wird festgelegt,was der Markt bereitstellt. 32 In dem Maße, wie es durch hoheitliche Regulierunggelingt, Wettbewerbsblockaden zu überwinden, trägt die Marktgewährleistungzur Verwirklichung sozialer Kohärenz der Marktergebnisse bei. Danachkann die Gemeinwohlverträglichkeit nicht im Wege der externen Vorgabebestimmter Ergebnisse gesichert werden. Sie ist vielmehr abhängig vonder Leistungserbringung, ihrem wettbewerblichen Modus <strong>und</strong> der hohen Dynamik,in die Regulierung gestellt ist. Mit anderen Worten: Soziale Ziele verfolgtdas Gewährleistungsrecht, indem die Regelungsstruktur als solche aufGemeinwohlorientierung gepolt wird.Man kann das auch anders sehen. Das weitere, nicht auf die Netzwirtschaftenbeschränkte, aber stärker in die Entwicklungszusammenhänge des Verwaltungsrechtsgelegte Verständnis von Gewährleistungsrecht begreift diesesnicht als schlichtes Produkt des Gewährleistungsstaates, sondern sieht in derKonturierung eines Gewährleistungsverwaltungsrechts eine über Wettbewerbsregulierungsfragenhinausgehende Ebene, die sich in der Dichotomievon Eingriffs- <strong>und</strong> Leistungsverwaltung nicht länger sinnvoll beschreibenlasse. Gr<strong>und</strong>legend hat das Andreas Voßkuhle, Präsident des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts,in seinem lesenswerten Staatsrechtslehrerreferat in St. Gallenzu formulieren verstanden. 33 Während auf der einen Seite die klassischen Instituteder Beleihung, Verwaltungshilfe <strong>und</strong> andere Formen der Beteiligungprivater Akteure an der hoheitlich zu verantwortenden Aufgabenverwirklichungeine bemerkenswerte Renaissance erfahren, werden auf der anderenSeite die Lücken erkennbar, die eine nach wie vor im wesentlichen auf die polizeilicheEingriffsverwaltung zugeschnittene Verwaltungsrechtsdogmatikaufweist, um die Regulierungsphänomene moderner Sozialstaatlichkeit inOrdnung zu bringen. Statt in punktuellen Modifikationen der auf das bipolareVerhältnis des Bürgers zum Staat ausgelegten Institute die Gewährleistungsverantwortungdes Staates auszuformen, müsse es um den Aufbau einerpermanenten Gewährleistungsstruktur gehen. 34Nach diesem weiten Verständnis von Gewährleistung zählt das Regulierungsrechtin seinen wesentlichen Strukturmerkmalen zum Verwaltungsrecht <strong>und</strong>stellt sich nicht, jedenfalls nicht primär als lediglich sektorales Wettbewerbsrechtdar. Direktiven erhält die Regulierung weniger durch das Wettbewerbs<strong>und</strong>Kartellrecht als vielmehr durch ein Strukturgewährleistungsrecht, dassich mit Blick auf die maßgebliche Regelungsstruktur neutral verhält, demWettbewerb also keinen prinzipiellen Vorrang einräumt. 35 Dafür gibt es imUnionsverfassungsrecht durchaus Anknüpfungspunkte, etwa im Wandel derRechtsprechung zu Art. 86 II EG, dem heute Art. 106 II AEUV entspricht. 36Auch wenn übersteigerte Erwartungen an eine Ergebnissicherung unter staatlichenRückholoptionen vermieden werden sollten, bleibt der Staat als neutraleInstanz unverzichtbar, um einen funktionierenden Leistungswettbewerbeinzurichten <strong>und</strong> absichern zu können. Für dieses Konzept liegen im Verwaltungsrecht37 inzwischen Konkretisierungsvorschläge vor, sei es mit Blick aufdie Einrichtung <strong>und</strong> Kontrolle gesellschaftlicher Eigenkontrollen 38 oder hinsichtlichder Qualitätssicherung des <strong>Die</strong>nstleistungswettbewerbs. 39 Auch nachdiesem, die staatliche Rolle schärfer akzentuierenden Verständnis von Gewährleistungsrechterhält gegenüber der materiellen Programmierung dasVerfahrens- <strong>und</strong> des Organisationsrecht besonderes Gewicht. 40E. EUROPÄISIERUNG UND INTERNATIONALISIERUNGEs bleibt die Frage, wie sich die beiden großen Trends der Europäisierung <strong>und</strong>Internationalisierung auf den modernen Sozialstaat, verstanden als Gewährleistungsstaatauswirken. Vieles spricht dafür, den europäischen Mitgliedstaatnicht länger als souveränen Nationalstaat zu überhöhen, sondern als Gewährleistungsstaatzu verstehen, der sich gerade auch aus europarechtlicher Sichtprimär verwaltungsrechtlich konzipieren <strong>und</strong> ausbuchstabieren lässt. 41 Ohneeinen robusten <strong>und</strong> zugleich offenen Staat mit einer personell <strong>und</strong> finanziellhinreichend ausgestatteten Verwaltung ließe sich weder der Binnenmarkt sichernnoch ein soziales Europa aufbauen. <strong>Die</strong> Europäische Union setzt aufwandlungsfähige Staatlichkeit, wodurch der Sozialstaat eine europäische Abstützungerhält. Denn auch das soziale Europa lässt sich ohne die in den unterschiedlichenRechtsordnungen eingespeicherten Erfahrungen <strong>und</strong> dieRessourcen des Sozialstaates kaum realisieren. Das erklärt die Zurückhaltunggegenüber Kompetenztranfers auf die Unionsebene <strong>und</strong> den Einsatz neuerKoordinierungsmodi in der europäischen Sozialpolitik. 42128<strong>Iurratio</strong>Ausgabe 3 / 2010

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