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WaKo Wahrnehmung und Kommunikation - Michael Giesecke

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ihr System einzufügen. Ich setze mich dabei freilich dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit<br />

aus. Dies wird mich aber nicht beirren, alles mir mögliche zu tun, um<br />

dem Leser in den weiteren Kapiteln dieses Buches das heikle Thema der menschlichen<br />

Leidenschaften zu vermitteln. Ich werde mich dabei um Verständlichkeit, Lebensnähe<br />

<strong>und</strong> einen ständigen Bezug zum Alltag bemühen <strong>und</strong> dennoch versuchen,<br />

auch wissenschaftlich verläßliche Informationen zu liefern – in Richtung auf eine<br />

Theorie der Leidenschaft, die uns helfen kann, zu einem besseren Verständnis von<br />

therapeutischer Praxis zu gelangen. Dazu brauchen wir bei einem Gegenstand der<br />

unweigerlich eigene Gefühle berührt, klare Definitionen. Es wird also keinem Irrationalismus<br />

oder Mystizismus das Wort geredet. Es wird auch kein neuer ‚Sensualismus’<br />

angestrebt, in dem alle Erkenntnis nur auf sinnlicher <strong>Wahrnehmung</strong> beruht;<br />

auch nicht ein zügelloser ‚Hedonismus’, eine Lehre der Lust, in der Genuß das<br />

höchste Gut des Lebens ist.<br />

Wir brauchen nüchternes Denken, Vernunft als bewußt gebrauchten Verstand, um<br />

bei einem derart heißen Thema, wie die menschlichen Leidenschaften es sind, einen<br />

kühlen Kopf zu bewahren. Die Gefahr aber, daß die Herrschaft der Vernunft zuviel<br />

Leidenschaftlichkeit unterdrückt, ist meines Erachtens größer als die, daß die Leidenschaft<br />

die Vernunft übermannt. Den gefühllosen Menschen, der kühl <strong>und</strong> berechnend<br />

seine Aufgabe in der heutigen komplizierten Welt er füllt, der gut funktioniert<br />

<strong>und</strong> als gesellschaftlich erwünschter ‚Sozialcharakter’ gilt, haben wir im ersten Kapitel,<br />

‚Mensch ohne Leidenschaft’ schon kennengelernt. Dieser Mensch bezahlt seine<br />

Gefühllosigkeit bestenfalls mit innerer Leere oder schlimmstenfalls mit neurotischer,<br />

psychosomatischer oder gar psychotischer Erkrankung. In diesen Formen von<br />

Krankheit sind die nicht gelebten Gefühle gleichsam geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> unterdrückt. Ein<br />

derart kranker Mensch setzt sich freilich der Gefahr des psychotischen Durchbruchs<br />

aus, wenn sich die unterdrückten Kräfte unkontrolliert ‚entäußern’ <strong>und</strong> der Mensch<br />

somit ‚außer sich’ gerät. Wenn es nicht zu derartigen Ausbrüchen kommt, dann sind<br />

es die an deren, die unter dem gefühllosen Wesen des ausschließlich durch Verstand<br />

gesteuerten, kühl berechnenden Menschen zu leiden haben.<br />

Wir kennen aber auch den gefühlvollen Menschen. Wir verstehen darunter meist etwas<br />

abwertend einen übertrieben gefühlsbetonten Menschen, der sich seinen Gefühlen<br />

voll hingibt, meist auf Kosten des Verstandes. Noch heute sehen wir unreflektiert<br />

besonders die Frau als gefühlsgesteuert an, während der Mann von Vernunft<br />

geprägt sei. Dies geht selbst aus Definitionen der Psychoanalyse hervor, wenn zum<br />

Beispiel ‚gefühlvoll’ <strong>und</strong> ‚weiblich’ ebenso gleichgesetzt werden wie ‚passiv’ <strong>und</strong><br />

‚feminin’. Der abwehrende Akzent gegenüber Gefühl <strong>und</strong> Leidenschaft kommt dann<br />

besonders zum Ausdruck, wenn wir, ohne es zu bedenken, alles Gefühl als ‚Gefühlsduselei’<br />

abtun. So hörte ich, daß sich junge Menschen über die heftigen <strong>und</strong><br />

gefühlvollen Auseinandersetzungen zwischen Marianne <strong>und</strong> Johann in Ingmar<br />

Bergmans ‚Szenen einer Ehe’ lustig machen <strong>und</strong> deren Affekte als Relikte aus längst<br />

vergangenen Zeiten ansehen. Demgegenüber möchte ich versuchen, die Welt der<br />

Gefühle wiederzuentdecken, weil ich der Meinung bin, daß Gefühllosigkeit eher<br />

schadet als ‚Gefühlshaftigkeit’. Mit dieser Wortneubildung will ich den negativen<br />

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