WaKo Wahrnehmung und Kommunikation - Michael Giesecke
WaKo Wahrnehmung und Kommunikation - Michael Giesecke
WaKo Wahrnehmung und Kommunikation - Michael Giesecke
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
eeinträchtigt. Affekte als heftige Gemütsbewegungen <strong>und</strong> Gefühlsausbrüche lassen<br />
keine ruhige Überlegung mehr aufkommen. Dabei sind die Affekte, wie die Gefühle,<br />
stets auf ein Objekt gerichtet. Jede Beziehung ist eine affektive Beziehung, innerhalb<br />
der wir uns über die Sprache der Affekte, das heißt über Affektäußerungen wie Weinen<br />
oder Schreien, verständigen; eine Sprache, die wir heute kaum noch verstehen,<br />
aber wieder lernen oder neu lernen können. Ihre mehr verborgenen Signale werden<br />
uns über Spannungen der Muskulatur, über die Körperhaltung, über Wärme oder<br />
Kälte, über Vibration, Klangfarbe <strong>und</strong> Ton fall der Sprache sowie über Resonanz <strong>und</strong><br />
Hautkontakt vermittelt.<br />
Leidenschaften sind ebenso wie Affekte heftig <strong>und</strong> intensiv, aber nicht kurzdauernd,<br />
sondern lang anhaltend. Sie können, zeitlich gesehen, über Wochen <strong>und</strong> Monate, ja<br />
über Jahre den Menschen bewegen; mit anderen Worten: sein gesamtes Leben<br />
ausfüllen. Was die Definition der Affekte <strong>und</strong> Leidenschaften angeht, so sind die<br />
diesbezüglichen Ausführungen Immanuel Kants, des großen Philosophen des<br />
18.Jahrh<strong>und</strong>erts, noch heute unübertroffen, so daß ich sie wörtlich zitieren möchte.<br />
Das Zitat stammt aus den ‚Schriften zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht’,<br />
erschienen in Königsberg im Jahre I798: „Der Affekt ist Überraschung, er ist übereilt,<br />
wächst geschwinde zu einem Grad, der die Überlegung unmöglich macht, er ist unbesonnen.<br />
Die Leidenschaft nimmt sich Zeit, um sich tief einzuwurzeln, ist überlegend,<br />
so heftig sie auch sein mag, um ihren Zweck zu erreichen. Der Affekt wirkt wie<br />
ein Wasser, das den Damm durchbricht; die Leidenschaft wie ein Strom, der sich in<br />
seinem Bette immer tiefer eingräbt. Der Affekt wirkt auf die Ges<strong>und</strong>heit wie ein<br />
Schlagfluß; die Leidenschaft wie eine Schwindsucht oder Auszehrung. Er (der Affekt)<br />
ist wie ein Rausch, den man ausschläft, obgleich Kopfweh darauf folgt, die Leidenschaft<br />
aber wie eine Krankheit aus verschlucktem Gift.“ Wenn wir Kants negative<br />
Bewertung der Leidenschaft auch nicht teilen, so wird aus dem Zitat doch deutlich,<br />
daß sowohl Affekte als auch Leidenschaften den Menschen in einem Ausmaß ergreifen,<br />
das sein bisheriges Gleichgewicht völlig verändert.<br />
Es ist ein qualitativer Sprung, der Gefühl in Leidenschaft verwandelt, gekennzeichnet<br />
durch einen höheren Grad von Ergriffenheit, verb<strong>und</strong>en mit einem Zurücktreten anderer<br />
Gefühle. Ein leidenschaftliches Gefühl erfüllt den Menschen, quantitativ gesehen,<br />
voll <strong>und</strong> ganz. Es ist getragen von bestimmten Vorstellungen oder Wünschen<br />
<strong>und</strong> wird unterhalten von einem Drang nach Erfüllung des Wunsches. Leidenschaft<br />
ergreift den ganzen Menschen mit Haut <strong>und</strong> Haar <strong>und</strong> ist ebenfalls, wie Gefühl <strong>und</strong><br />
Affekt, stets auf ein Objekt bezogen: Leidenschaftliche Liebe zieht uns zum andern<br />
hin. Leidenschaftlicher Haß stößt uns von einem anderen Menschen ab. Leidenschaft<br />
ist immer sthenisch, das heißt kraftvoll, nie asthenisch, also schwach. Leidenschaft<br />
ist aufregend <strong>und</strong> erregend. Sie ist beständig <strong>und</strong> beharrlich, dabei stets konzentriert<br />
auf ihr Ziel, eine ‚Aktivität der Seele’, wie sich Rubinstein ausdrückt. Damit<br />
ist freilich eine neuartige Definition von Leidenschaft gegeben, denn im allgemeinen<br />
Sprachgebrauch ist ja Leidenschaft etwas Passives, etwas, das uns passiv widerfährt.<br />
Ich erwähnte schon, daß Leidenschaft den Menschen ergreift, packt. Im Wort<br />
‚Leidenschaft’ selbst drückt sich die Leideform aus. Auch im lateinischen ‚passim’<br />
42