RELIGION UND GESELLSCHAFTexistenziellen Rändern: denen desMysteriums der Sünde, des Schmerzes,der Ungerechtigkeit, der Ignoranz,des Lebens ohne Religion – bisan die Grenzen des Denkens und allenElends.“„Bis an die Grenzen des Denkens“:auch das gehört zum Auftragder Kirche. Kirche muss sich auf dasWissen ihrer Zeit einstellen, auf ihreHerausforderungen, ihre Risiken.Wissen ist gefährlich – die Kirche darfdem nicht ausweichen. Das verlangtdie Bereitschaft, im Kontakt mit derWelt auch nach den eigenen kirchlichenPlausibilitäten zu fragen. Kirchedarf nicht um sich selbst kreisen. Esgibt eine Eigendynamik kirchlicherInstitutionen, es gibt eine kirchlicheSelbstbezüglichkeit. Das macht Kirchekrank.In seiner Rede auf dem Vorkonklavespielte Kardinal Bergoglio aufeine Geschichte aus dem Lukasevangeliuman. Jesus trifft in der Synagogeeine Frau, deren Rücken verkrümmtist (Lk 13,10-27). „Sie konntenicht mehr aufrecht gehen.“ Jesusnimmt sie in ihrer Existenznot wahr.Er spricht sie an, er berührt sie. Dasgeht wie ein Ruck des Lebens durchdiese Frau. Die Lebensmacht Gottes,die sich ihr in Jesus zuwendet, richtetsie auf. Mit dieser Frau identifiziertBergoglio die Kirche. Die Konsequenzist aufregend: Auch die Kirche mussden aufrechten Gang neu lernen. InErzbischof Dr. Alois Kothgasser(Foto Sulzer)sich selbst verkrümmt, findet sie nichtzu den gebeugten Menschen ihrerZeit. Den Treibsatz dieses Gedankenszündet ein weiterer Vergleich.Jesus steht vor der Tür der Kircheund klopft an. Dieses Bild strapaziertBergoglio nun bis an die Grenze deskirchlich Vorstellbaren. „Ich denkean die Zeiten, in denen Jesus von innenanklopft, sodass wir ihn herauslassensollen. Die selbstbezüglicheKirche hält Jesus Christus in ihr undlässt ihn nicht heraus.“Die Kirche – ein Gefängnis Jesu?Ein gefährliches Bild, das sich zwischenden Zeilen entwickelt. Derkünftige Papst redet der Kirche insGewissen: Lasst Jesus Christus zuden Menschen! Das führt an die Ränderdes Lebens, hinaus zu den Ausgegrenzten,Vergessenen, Übersehenen.Ihnen gilt die AufmerksamkeitJesu. Sie richtet er auf. Das sprengtdie Grenzen einer Kirche, die sich inihren eigenen institutionellen Rahmeneinsperrt. In ihre Gesetze. InRituale des Selbstverständlichen. Indas, was Bergoglio „theologischenNarzissmus“ nennt.Hier setzt sich ein Wissen vonder Kirche durch, das etwas Gefährlichesbeinhaltet. Es verlangt nämlich,den Ort der Kirche und ihre Praxiszu überprüfen. Auf dieser Grundlagekann sich die Kirche den Herausforderungenihrer Zeit stellen und neu zuden Menschen finden. Papst Franziskuslebt dies auf eine beeindruckendeWeise vor. Die SHW im Jahr 2013 bewegtsich mit ihrem Thema „GefährlichesWissen“ auf dieser Linie. ❏Salzburger HochschulwochenWährend der diesjährigen SalzburgerHochschulwochen vom29.Juli bis 4.August hielt ProfessorinDr. Johanna Rahner1 die Vorlesungüberdas gefährliche Wissen derKirche(n). Zu Beginn ihrer Ausführungenam Montag, den 29.07. mach-1 Prof. Dr. Johanna Rahner, geb. 1962 inBaden-Baden, Studium der katholischenTheologie und Biologie in Freiburg/Breisgau. 1997 Promotion, habilitiertesich 2003 an der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster für dieFächer Fundamentaltheologie undÖkumene. Zurzeit Professorin für SystematischeTheologie an der UniversitätKasselDas gefährliche Wissen der Kirche(n)VON BERTRAM BASTIANte sie deutlich, dass es hier nicht umEffekthascherei wie bei neuesten Romanengehe, sondern um die eigentlicheKirchengeschichte. Die erstenkleinen Gemeinden seien in der Tat„geheimbündlerisch“ gewesen, führteProf.‘in Rahner aus, schließlichsei diese Glaubensgemeinschaft janicht mit offenen Armen empfangenworden, sondern unterlag in der erstenZeit einer Verfolgung. Somit seies nicht verwunderlich gewesen,dasssich ein „Eliteverhalten“ herausgebildethätte, welches auf dem einzigwahren Wissen um die GeschichteJesu Christi beruht hätte. Ein solchesWissen sei immer dann gefährlich gewesen,führte Rahner aus, wenn dieKirche (mit ihrem Wissen) systemkritischgewesen sei. Beispiel dafür seidie frühe Christenverfolgung gewesen:zuerst bekämpft ging die Kirchein den Untergrund, nach der „Wende“wurde der christliche Glaube Staatsreligionund damit zum Systemstützerunter der Prämisse, sich anzupassen.Grundsätzlich habe in der Früzeit derKirche gegolten: Kirche in der Welt,aber nicht von dieser Welt. Damithabe man sich gut aus vielem heraushaltenkönnen, sagte Prof.‘in Rahnerweiter. Durch die Haltung „Kirche in24 AUFTRAG <strong>291</strong> • SEPTEMBER 2013
RELIGION UND GESELLSCHAFTder Welt“ habe die Kirche den Standpunktder gnostischen Elite verlassenund sich zunehmend in den Dienstder Welt gestellt. Statt allzu großeAnpassung habe man stets versucht„Sauerteig“ in dieser Welt zu sein undfür positive Veränderung Sorge getragen.Rahner bezeichnete diese Phaseals Sieg des wissens der Kirche überdie Visionen der Philosophen. Diesebreite Entwicklung habe aber zurAusbildung einer doppelten Ordnunggeführt, so Rahner weiter. Auf der einenSeite die Kleriker mit dem dortgehüteten Sonderwisse, auf der anderenSeite die Laien (ignotes) als Nichtwissenden.Somit sei eine Konkurrenzentstanden zwischen den Herrschendender Welt (Monarchen) und dieklerikale Herrschaft, diese aber mitdem „wahren Wissen“ versehen. DieFolge dieser Konkurrenz sei die Säkularisationgewesen, erklärte Rahnerden Zuhörern. Als Reaktion auf dieseVerweltlichung habe sich die Kircheaus der Welt zurückgezogen, was sichin den zahllosen Ordensgründungengezeigt habe: folgend Jesu Christi,losgelöst von dieser Welt, nur an denRändern der Gesellschaft wahrnehmbar,habe das Wissen der Kirche hiernoch volle Wirkung gezeigt, so Rahnerweiter. Durch das sich herausbildendeinstituionskritische Wissen sei letztendlichdie Reformation entstandenführte die Rednerin weiter aus. DieHinwendung zur Welt habe aber auchzu einer „Profanisierung“ geführt, diedann später zu einer Übersteigerungdes eigenen Denkens führte und imBarock endete. Dieser Entwicklunghabe die Aufklärung ein Ende gesetzt,es kristallisierte sich ein Denken nebender Kirche heraus, nicht in derKirche. Die Erkenntnis habe gelautet,dass die Welt funktioniere auch ohnedas Wissen um Gott, sagte Prof.‘inRahner. Die Sprache der Kirche seidaraufhin defensiv geworden, führtedie Rednerin aus, nicht mehr progressivfordernd, gab es Erretung nurnoch in der Kirche. Fast sei es eineRückkehr zum gnostischen Weltbildgeworden. Die Kirche heute habe abermit dem II. Vaticanum die Rückkehrin die Wirklichkeit gefunden, in demdie Kirche den Zweck nicht mehr insich selbst sehe, sondern in dem Heilder anderen. Der Dienst der Kirchesei zum Dienst an der Welt geworden.AUFTRAG <strong>291</strong> • SEPTEMBER 2013Professorin Dr. Johanna Rahner(Foto Sulzer)Ein neues Verkündigungserlebnis seizum gefährlichen Wissen für die Kirchegeworden: die Gnade sei ein GeschenkGottes, d.h. immer vorhandenund existent und nicht an Sakramentegebunden! So verlasse das Wissenum das Heil die Kirche, erläuterteRahner. Dieses Wissen sei existenzgefährdendfür die Kirche. Die Kircheselbst könne heute nicht wirken undmissionieren, wenn die Kirche nichtder Welt zuhöre, auf sie zugehe, umdann mit der Sprache der Welt dieseWelt anzusprechen, beendete die Rednerinden ersten Teil ihres Vortrages.Den Vortrag am Dienstag, den30.07. widmete Prof.‘in RahnerKonkretionen2, die sie unter dieÜberschriften stellte:– Entmächtigung und Aufklärung– Entfristung und Universalisierung– Befreit, um anfangen zu können– Gefährliche Erinnerungen undVollendung.Entmächtigungund AufklärungEin Monotheismus, der nurschwarz/weiß male, führe letztendlichzur Gewalt, da diejenigen, die nichtim Besitz der reinen Lehre sind, ausgegrenztwerden und sich somit radikalisieren.Die Theologie antworte auf2 Konkretionen im Sinne vonVergegenständlichung (Duden)diesen Fall, dass Heil und Herrschaftnicht identisch seien, führte Rahneraus. Damit ist aber vorgegeben, dasseine Heilssuche nur sensibel vorgehenkönne, da sie ja die Herrschaft,die nicht unbedingt wahr sein müsse,störe. Eine solche Erfahrung habejede Religion in jeglichem totelitäremStaatswesen gemacht. Wenn aber dieHerrschenden nicht die Heilsbringerseien, müssten sie entmächtigt werden,zumindest in der Hinsicht desHeils. Die Kultur des ganz anderenGottes, der sich unverwechselbar imDornbusch zeigte, ergebe eine Religionum sich selber willen. Gotteserfahrungseine gleichwohl gemachtworden, wie der Exodus aus Ägyptenzeige. Somit werde mit der Suche nachdem Heil nicht mehr ein personalisierbarerHerrscher verbunden, sonderndie Gotteserfahrung fülle dieseLeerstelle aus.Entfristung undUniversalisierungNachdem das menschliche Lebenbefristet ist, sei es grade in der Politikbeliebt, mit Endzeitstimmung Meinungenzu beeinflussen. Durch diepolitische Reaktion auf apokalyptischeÄngste werde manches erklärtund und gemacht, was in „normalen“Zeiten kontraproduktiv der Religionwäre: man male wieder in schwarz/weiß. Was früher nur latent als Tiefenströmungvorhanden gewesen sei, wirdjetzt wieder hervorgeholt, man grenzeAndersdenkende aus und propagiert,man wäre im Besitz der allein seligmachendenWahrheit. Deutlich würdediese Denkhaltung im vermehrtenGebrauch des Wortes „alternativlos“.Grundlage des theologischen Denkenssollte aber der Punkt der erfüllten Zeitsein, was bedeute eine Änderung (zumBesseren) sei ohne Weiteres möglich.Man nehem sich Zeit, um diese Änderungendurchzuführen, somit seider theologische Ansatz nicht: „dasEnde ist nah“ sondern „die Zeit isterfüllt“. Die Geschichte der Religionist Heilsgeschichte, beginnend mitder Übergabe seiner Schöpfung anden von ihm geschaffenen Menschen.Zur Bewahrung, aber auch zur Änderung:domine terram sei nicht Gewaltherrschaftüber die Schöpfung, sondernÜbernahme von Verantwortungfür dieselbe! Ebenso sei der Auszug25