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Willi Volka - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV

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Hermann Wischnat<br />

K<br />

ürzlich geriet ich in einen litera‐<br />

rischen Zirkel; Autorinnen und<br />

<strong>Autoren</strong> waren auch dabei. Unversehens<br />

ging es um Gedichttitel.<br />

Soll ein Gedicht einen Titel haben, oder<br />

ist der gar nicht erforderlich, ja bisweilen<br />

eher hinderlich oder irritierend? Die Frage<br />

scheint berechtigt, denn es gibt Gedichte mit<br />

und ohne Überschrift, wenn auch die be‐<br />

titelten Gedichte eindeutig in der Überzahl<br />

sind.<br />

Ein Titel hat Signalcharakter. Viele<br />

Leserinnen und Leser erwarten oder ver‐<br />

langen in ihm den Kern der Textaussage,<br />

zumindest eine Zusammenfassung oder –<br />

vielleicht besser sogar – den Witz des Ge‐<br />

dichts, Witz im alten Verständnis von „Ein‐<br />

sicht ins Ganze“.<br />

Die Dichtenden selbst sind vorsichtig. Je<br />

nach Anlass und Situation kann ein Stich‐<br />

wort einen Schreibprozess auslösen und<br />

sofort als Überschrift feststehen.<br />

Von Autorinnen und <strong>Autoren</strong> hört man<br />

aber auch: Gelegentlich ist der Text fertig,<br />

aber der „passende“ Titel fehlt. Vom Text‐<br />

inhalt her sind mehrere denkbar. Der letzt‐<br />

lich gewählte ist dann ein Kompromiss, weil<br />

man, so will es die Gepflogenheit, betitelt. –<br />

Der Leser merkt solch eine Unsicherheit<br />

kaum, wie soll er auch, und hält die Über‐<br />

schrift für textverbindend, in aller Regel für<br />

die Quintessenz dessen, was die Autorin/<br />

der Autor sagen will.<br />

An dieser Stelle liegt eine plausible Be‐<br />

gründung für das titellose Gedicht. Und es<br />

gibt Autorinnen und <strong>Autoren</strong>, die grund‐<br />

sätzlich ihre Gedichte unbetitelt lassen. Der<br />

ESSAY<br />

GEDICHTTITEL<br />

IGdA‐aktuell, Heft 1 (2009), Seite 21<br />

Leser hat dann die Freiheit, sich<br />

titelunvoreingenommen die Inhalte zu er‐<br />

schließen und zu ordnen. Er verspürt eher<br />

die Herausforderung, selbst zu seiner Leit‐<br />

aussage zu kommen, statt sie per Überschrift<br />

vorab zur Kenntnis zu erhalten. Das alles<br />

gilt, wenn das titellose Gedicht gelesen wird.<br />

Da aber auch das Lesen von Gedichten<br />

eine Gewohnheitssache ist, geht der „titel‐<br />

lose“ Autor die Gefahr ein, dass sein Text<br />

gar nicht gelesen wird; das Gedicht wird<br />

überschlagen. Der Leser sucht unwillkürlich<br />

erst nach den „richtigen“ Gedichten; und die<br />

haben eine Überschrift (?)<br />

Die kann über die Frage nach inhaltlicher<br />

„Treffsicherheit“ hinaus grafisch vielfältig<br />

gestaltet werden. Man blättere nur: Große<br />

und kleine Überschriften, vom Gedichttext<br />

abweichende Schriftarten, Fett‐ oder Kursiv‐<br />

druck, variierende Abstände zwischen Titel<br />

und Text, Titel mit optisch abgesetztem<br />

Untertitel, auffällige Positionierungen im<br />

Satzspiegel, Titellänge (nicht mehr als fünf<br />

Worte?) usw.<br />

Gerät ein Gedicht in ein Buch, in eine<br />

Anthologie z.B., entscheidet über die<br />

grafische Aufmachung des Titels in der<br />

Regel der Herausgeber. Ihm geht es um die<br />

Gesamtwirkung, die beim Leser auch über<br />

die Titelform Erwartungen wecken und eine<br />

Einstimmung bewirken soll. Die <strong>Autoren</strong><br />

entdecken sich mit ihren Gedichttiteln<br />

grafisch fremdgestaltet vereinheitlicht wie‐<br />

der.<br />

Aus welcher Sicht der Titel – oder die<br />

Suche nach ihm – auch betrachtet wird, es<br />

ergibt sich immer eine Beziehung zwischen<br />

Titel und Text. Man entdeckt Korres‐

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