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Willi Volka - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV

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_____________________________PROSA______________________________________<br />

werden sie sich jedes Mal sehr schlecht<br />

fühlen, aber die nächsten drei Wochen fast<br />

normal leben können. Mit Therapie und<br />

Kontrolle rechne ich mit 2 ½, drei Jahren für<br />

Sie. Das ist doch ein großer Gewinn.“<br />

Plötzlich war ihr Leben eingeengt auf<br />

diesen Zeitraum. Sie sah sich nur noch ihrer<br />

Krankheit lebend, und sie hatte doch noch so<br />

viele unerfüllte Wünsche, jetzt, da die<br />

Kinder aus dem Haus waren, und sie mehr<br />

Zeit für sich selbst und weniger Ver‐<br />

pflichtungen hatte. Plötzlich aber schien jede<br />

Freiheit unmöglich. Eingespannt in das<br />

Korsett einer Therapie, Krankenhaus, Arzt‐<br />

termine. Nein, das wollte sie nicht! Reisen<br />

wollte sie, leben, einfach leben, das bisschen<br />

Zeit und Leben, das ihr blieb genießen,<br />

füllen, es aufsaugen, intensiv erleben.<br />

Sie schreckte auf und mitten in den Rede‐<br />

fluss der Ärztin hinein sagte sie: „Nein!“ Sie<br />

schrie es nicht, sagte fest und entschlossen<br />

„Nein!“<br />

Die Rede versiegte, verständnislos sah ihr<br />

Gegenüber sie an. „Wieso nein? Seien Sie<br />

froh, dass wir soweit sind mit der Be‐<br />

handlung. Das ist Ihre einzige Chance, Ihre<br />

… Rettung.“ Das letzte Wort kam zögernd.<br />

„Chance? Wofür? Ein Leben im Kranken‐<br />

haus? Es rettet mich nicht vor dem Tod,<br />

sondern beendet mein Leben sofort, mit dem<br />

ersten Behandlungstag. Nein, ich will mein<br />

Leben leben, und wenn es nur noch ein Jahr<br />

ist. Ich will erleben, was mir dieses eine Jahr<br />

noch schenkt, und ver suchen, den Tod nicht<br />

als Feind zu sehen, sondern als Begleiter.<br />

Das ist meine Chance, vielleicht die beste,<br />

die ich je hatte, etwas aus mir und meinem<br />

Leben zu machen, und Freiheit, endlich<br />

IGdA‐aktuell, Heft 1 (2009), Seite 9<br />

Freiheit, auch, wenn es nur für ein Jahr ist,<br />

für ein halbes.“<br />

Sie atmete tief ein und aus, schaute die<br />

Ärztin an und sagte in dieses ihr so ferne<br />

Gesicht hinein:<br />

„Danke! Sie haben Recht, es ist positiv.<br />

Ich werde nicht mehr wiederkommen, nicht<br />

zu Ihnen, auch nicht ins Krankenhaus.<br />

Lassen Sie es sich gut gehen. Ich würde<br />

Ihnen gern ein wenig von der Freiheit ab‐<br />

geben, die Sie mir eben geschenkt haben.“<br />

Sie stand auf, und bevor ihr Gegenüber<br />

die Situation erfasst und hinter dem Schreib‐<br />

tisch hervor gekommen war, hatte sie die<br />

Tür erreicht. Sie verließ das Zimmer, die<br />

Praxis. Kaum zehn Minuten hatte das Ge‐<br />

spräch gedauert, und als sie in die Sonne<br />

hinaus trat, war es für sie der erste Schritt in<br />

ein anderes Leben.<br />

So vieles war mit einem Male unwichtig<br />

geworden: ihr altes Leben, die Menschen um<br />

sie herum. Sie setzte sich auf eine Parkbank<br />

und hob ihr Gesicht in die Sonne. Wärme –<br />

sie wollte sie genießen, so lange es noch<br />

Sonnenschein für sie gab. Und sie begann,<br />

den Rest ihres Lebens in die Hand zu<br />

nehmen.<br />

Drei Tage später verließ sie festen<br />

Schrittes mit einem Koffer das Haus. Kein<br />

unnötiger Ballast! Der Brief für ihren Mann<br />

lag auf dem Esstisch, zu einem Gespräch<br />

hatte ihr doch der Mut gefehlt. Sie wollte<br />

ihren Entschluss nicht diskutieren. Ihr<br />

anderes Leben begann, sie freute auf die<br />

Zeit, die ihr blieb und die ihr gehören sollte,<br />

auch, wenn sie nur kurz war. Sie warf<br />

keinen Blick zurück.

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