Willi Volka - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV
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werden sie sich jedes Mal sehr schlecht<br />
fühlen, aber die nächsten drei Wochen fast<br />
normal leben können. Mit Therapie und<br />
Kontrolle rechne ich mit 2 ½, drei Jahren für<br />
Sie. Das ist doch ein großer Gewinn.“<br />
Plötzlich war ihr Leben eingeengt auf<br />
diesen Zeitraum. Sie sah sich nur noch ihrer<br />
Krankheit lebend, und sie hatte doch noch so<br />
viele unerfüllte Wünsche, jetzt, da die<br />
Kinder aus dem Haus waren, und sie mehr<br />
Zeit für sich selbst und weniger Ver‐<br />
pflichtungen hatte. Plötzlich aber schien jede<br />
Freiheit unmöglich. Eingespannt in das<br />
Korsett einer Therapie, Krankenhaus, Arzt‐<br />
termine. Nein, das wollte sie nicht! Reisen<br />
wollte sie, leben, einfach leben, das bisschen<br />
Zeit und Leben, das ihr blieb genießen,<br />
füllen, es aufsaugen, intensiv erleben.<br />
Sie schreckte auf und mitten in den Rede‐<br />
fluss der Ärztin hinein sagte sie: „Nein!“ Sie<br />
schrie es nicht, sagte fest und entschlossen<br />
„Nein!“<br />
Die Rede versiegte, verständnislos sah ihr<br />
Gegenüber sie an. „Wieso nein? Seien Sie<br />
froh, dass wir soweit sind mit der Be‐<br />
handlung. Das ist Ihre einzige Chance, Ihre<br />
… Rettung.“ Das letzte Wort kam zögernd.<br />
„Chance? Wofür? Ein Leben im Kranken‐<br />
haus? Es rettet mich nicht vor dem Tod,<br />
sondern beendet mein Leben sofort, mit dem<br />
ersten Behandlungstag. Nein, ich will mein<br />
Leben leben, und wenn es nur noch ein Jahr<br />
ist. Ich will erleben, was mir dieses eine Jahr<br />
noch schenkt, und ver suchen, den Tod nicht<br />
als Feind zu sehen, sondern als Begleiter.<br />
Das ist meine Chance, vielleicht die beste,<br />
die ich je hatte, etwas aus mir und meinem<br />
Leben zu machen, und Freiheit, endlich<br />
IGdA‐aktuell, Heft 1 (2009), Seite 9<br />
Freiheit, auch, wenn es nur für ein Jahr ist,<br />
für ein halbes.“<br />
Sie atmete tief ein und aus, schaute die<br />
Ärztin an und sagte in dieses ihr so ferne<br />
Gesicht hinein:<br />
„Danke! Sie haben Recht, es ist positiv.<br />
Ich werde nicht mehr wiederkommen, nicht<br />
zu Ihnen, auch nicht ins Krankenhaus.<br />
Lassen Sie es sich gut gehen. Ich würde<br />
Ihnen gern ein wenig von der Freiheit ab‐<br />
geben, die Sie mir eben geschenkt haben.“<br />
Sie stand auf, und bevor ihr Gegenüber<br />
die Situation erfasst und hinter dem Schreib‐<br />
tisch hervor gekommen war, hatte sie die<br />
Tür erreicht. Sie verließ das Zimmer, die<br />
Praxis. Kaum zehn Minuten hatte das Ge‐<br />
spräch gedauert, und als sie in die Sonne<br />
hinaus trat, war es für sie der erste Schritt in<br />
ein anderes Leben.<br />
So vieles war mit einem Male unwichtig<br />
geworden: ihr altes Leben, die Menschen um<br />
sie herum. Sie setzte sich auf eine Parkbank<br />
und hob ihr Gesicht in die Sonne. Wärme –<br />
sie wollte sie genießen, so lange es noch<br />
Sonnenschein für sie gab. Und sie begann,<br />
den Rest ihres Lebens in die Hand zu<br />
nehmen.<br />
Drei Tage später verließ sie festen<br />
Schrittes mit einem Koffer das Haus. Kein<br />
unnötiger Ballast! Der Brief für ihren Mann<br />
lag auf dem Esstisch, zu einem Gespräch<br />
hatte ihr doch der Mut gefehlt. Sie wollte<br />
ihren Entschluss nicht diskutieren. Ihr<br />
anderes Leben begann, sie freute auf die<br />
Zeit, die ihr blieb und die ihr gehören sollte,<br />
auch, wenn sie nur kurz war. Sie warf<br />
keinen Blick zurück.