Willi Volka - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV
Willi Volka - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV
Willi Volka - Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren eV
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
______________________________PROSA______________________________________<br />
Gaby Hühn‐Keller<br />
I<br />
IM EILTEMPO GLEITET DAS FRÜHJAHR VORBEI<br />
m Eiltempo gleitet das Frühjahr<br />
vorbei“, lautet die Unterschrift zu<br />
einem farbigen Foto in der Tageszeitung.<br />
Den Vordergrund des Fotos bildet ein grell‐<br />
gelbes Rapsfeld. Der durch die Ge‐<br />
schwindigkeit sichtlich unscharfe, schmale<br />
Silberstreifen eines ICE teilt das Bild. Hinter<br />
dem Zug steht dunkel ein Wald, darüber<br />
wolkenlos hellblau der Frühlingshimmel.<br />
Das Bild „springt“ mich an. Im Geiste<br />
setze ich mich in den Zug und fühle das<br />
Frühjahr im Eiltempo an mir vorübergleiten.<br />
Fast habe ich den Anfang für ein Gedicht:<br />
„Im Eiltempo gleitet das Frühjahr vorbei/ auf<br />
Rapsfeld folgt Acker/folgt frischgrüne<br />
Saat…“, da betritt Günther den Raum und<br />
reißt mich aus meinen Gedanken: „So ein<br />
Schmarrn, typisch Zeitungsschmierer. Man<br />
kann nicht sagen „Im Eiltempo gleitet das<br />
Frühjahr vorbei‘, richtig wäre ‚Am Rapsfeld<br />
gleitet der Eilzug vorbei‘. Doch das kapieren<br />
die nie!“ Von dreißig Jahren Korrekturarbeit<br />
geprägt, pflegt Günther jetzt endlich davon<br />
befreit, die Korrektur der Zeitung. Da regt<br />
ihn viel auf. „Wenn man im Zug sitzt, kann<br />
es so wirken“, werfe ich ein, „Dann muss<br />
man es auch so schreiben, sonst ist es eben<br />
falsch.“ Er war jetzt dabei, sich in die Tiefen<br />
der deutschen Sprache zu versenken.<br />
Genauigkeit anzumahnen, damit die ge‐<br />
schriebene Sprache auch zu geordneten Ge‐<br />
dankengängen und zu einer unmissver‐<br />
ständlichen Mitteilung führt. Es wäre zu<br />
diesem Zeitpunkt falsch gewesen, ihn<br />
stoppen zu wollen, noch dazu mit einem<br />
Gegenargument wie dem meinen, nämlich,<br />
dass mich das Verkehrte fast zu einem Ge‐<br />
dicht inspiriert hätte. Als eine abstruse An‐<br />
einanderreihung von Gedankenfetzen hätte<br />
IGdA‐aktuell, Heft 1 (2009), Seite 7<br />
er dieses mögliche Gedicht abgetan. Als<br />
seine Lektion zu Ende war, hatten viele<br />
richtige Worte der Prosa wenige vage Worte<br />
der Lyrik im Keime erstickt.<br />
Aber ich bin Optimist. Nächste Woche<br />
vielleicht, denke ich, könnte ich den Faden<br />
wieder aufnehmen. In einer Fallstudie<br />
sozusagen, vor Ort. Ich hatte nämlich vor,<br />
nach Rotterdam zu fahren. Mit genau solch<br />
einem schnellen silbernen Zug wie auf dem<br />
Foto. Mal sehen, ob und wie das Frühjahr<br />
vorbeigleiten würde.<br />
Rapsfelder, Wiesen, kleine Dörfer, zwei<br />
Angler, Pferde, ein Storch.<br />
Im Tunnel fliegen im Eiltempo, Streifen<br />
ziehend, die Neonröhren vorbei. Masten,<br />
Leitungen, Schienen, Signale, Hochhäuser,<br />
Kirchtürme, Brückenpfeiler, Sendemasten,<br />
Schornsteine, Industrieanlagen, Cargo‐<br />
Bahnhöfe. Ein entgegenkommender Silber‐<br />
pfeil rauscht vorbei. Sein roter Streifen wie<br />
ein mit Marker gezogener Strich.<br />
Im Abteil wird geschrieben, getippt, tele‐<br />
foniert, gelesen, gesprochen. Büroat‐<br />
mosphäre. Alles scheint wichtig – nur das<br />
Frühjahr nicht.<br />
Donau, Rhein, Main gleiten in Abständen<br />
vorbei. Mit dreihundert Kilometern in der<br />
Stunde rast jetzt der Zug.<br />
Rapsfelder, Flussauen, Täler, Hügel,<br />
Wolkenpolster, Dörfer, hingeworfen wie im<br />
Legoland. Der Dom zu Limburg/Lahn wie<br />
im Daumenkino. Turmhelme, Bergfriede,<br />
Schlösser. Gelbe Ginsterbüsche sind Tupfen,<br />
Klatschmohn ein roter Teppich, Tannen‐<br />
spitzen nach oben, ein Pfeil.