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Besser mit dem Bus

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Wikigate in den USa<br />

Ein offenes<br />

Geheimnis<br />

Für die einen ist Julian Assange ein Hightechterrorist,<br />

der <strong>mit</strong> allen Mitteln unschädlich gemacht werden muss. Für andere ist<br />

er das neue Gesicht einer unabhängigen Presse.<br />

Von Lotta SutEr, BoSton<br />

Wenn Sarah Palin und ihre Gesinnungsgenoss­<br />

Innen im US­Kongress den Wikileaks­Gründer<br />

Julian Assange als «antiamerikanischen Provokateur<br />

<strong>mit</strong> Blut an den Händen», als «Hightechterroristen»<br />

und «enemy combatant» (gesetzlosen<br />

feindlichen Kämpfer) bezeichnen, ist<br />

das nicht weiter erstaunlich. Für die nationalistische<br />

Rechte der USA ist jeder nichtkonservative<br />

Ausländer eine Bedrohung. Wikileaks<br />

müsse <strong>mit</strong> allen Mitteln verfolgt und unschädlich<br />

gemacht werden, fordern diese Kreise zum<br />

Beispiel auf foxnews.com, wenn nötig auch<br />

durch «aussergerichtliche Aktionen», sprich<br />

Mordkommandos.<br />

Der unabhängige US­Senator Joe Lieberman<br />

will Wikileaks nicht gerade <strong>mit</strong> al­Kaida<br />

gleichsetzen. Aber der Heimatschützer verlangte<br />

vom Internetdienstleister Amazon, die<br />

«staatsgefährdenden» Dokumente vom Server<br />

zu nehmen. Lieberman hatte keine gesetz­<br />

liche Grundlage für dieses Vorgehen. Das Justizdepartement<br />

sucht noch nach geeigneten<br />

Paragrafen. Doch Amazon übte sich in vorauseilen<strong>dem</strong><br />

Gehorsam. Der Domainprovider<br />

everydns.net und der Onlinezahlungsservice<br />

Paypal folgten <strong>dem</strong> Beispiel. Sogar ausländische<br />

Unternehmen gaben <strong>dem</strong> Druck aus den<br />

USA nach, unter anderem die Schweizer Postfinance.<br />

Karrierefalle Wikileaks?<br />

Die Zensurversuche der US­Regierung erinnern<br />

an den Umgang der Golfstaaten <strong>mit</strong> Blackberrys,<br />

die aggressiven Cyberattacken auf Wikileaks<br />

an Chinas Google­Probleme. Faktisch<br />

wurde die Weiterverbreitung der Enthüllungen<br />

bisher kaum behindert, denn die Netzaktivist­<br />

Innen sind findig und die Ausweichmöglichkeiten<br />

im Internet enorm.<br />

Die offizielle Reaktion der USA hinkt der<br />

virtuellen Wirklichkeit denn auch hoffnungslos<br />

hinterher. Das US­Aussenministerium und<br />

das Pentagon haben ihren Angestellten und<br />

SoldatInnen verboten, sich die Wikileaks­Dokumente<br />

im Büro, im Feld oder daheim anzuschauen<br />

oder gar herunterzuladen. Die als «geheim»<br />

oder «streng geheim» markierten Depeschen<br />

seien nach wie vor geheim, und wer sich<br />

unbefugterweise Zutritt verschaffe, mache sich<br />

strafbar. Aber was ist <strong>mit</strong> den mehr als 850 000<br />

StaatsbeamtInnen, die bereits im Besitz einer<br />

«Security Clearance» sind, einer Unbedenklichkeitsbescheinigung<br />

für Geheimnisträger Innen?<br />

Dürfen die auch nicht in Wikileaks surfen?<br />

In der Diplomatenschmiede School of<br />

International and Public Affairs (Sipa) der Columbia<br />

University wurde den Studierenden<br />

geraten, jegliche Onlinerecherche zum Thema<br />

zu unterlassen. Das «würde Ihren verantwortungsvollen<br />

Umgang <strong>mit</strong> geheimer Information<br />

in Frage stellen, eine Fähigkeit, die eine<br />

wichtige Voraussetzung für die meisten Staatsstellen<br />

darstellt», schrieb das schuleigene Büro<br />

für Karriereberatung. Kurz darauf revidierte<br />

die Universität ihre Position: Die Sipa bekennt<br />

sich nun voll und ganz zur Freiheit von Presse<br />

und Forschung. Einer der Professoren meinte<br />

sogar, wer internationale Beziehungen studiere<br />

und sich die Wikileaks­Dokumente noch<br />

nicht angesehen habe, sei ganz offensichtlich<br />

am falschen Ort.<br />

In der allgemeinen moralischen Empörung<br />

über den «Informationsdiebstahl» wird<br />

selten klargestellt, dass Wikileaks oder Assange<br />

nicht eigenhändig Computer hacken, sondern<br />

Informationen aufbereiten und publizieren,<br />

die von InsiderInnen freiwillig zugespielt wor­<br />

International 13<br />

WOZ Nr. 49 9. Dezember 2010<br />

den sind. Die «New York Times», die im Nachrichtenteil<br />

die diplomatischen Indiskretionen<br />

veröffentlicht und analysiert, entschuldigt sich<br />

auf der LeserInnenseite regelmässig dafür und<br />

erklärt, sie würde unter <strong>dem</strong> Informationsdruck<br />

von Wikileaks handeln. Das stimmt vermutlich<br />

sogar. Es kommt nicht von ungefähr,<br />

dass die Whistleblowers das neue Medium<br />

als Ansprechpartner vorziehen. Die etablierte<br />

Presse in den USA hat in jüngster Zeit, etwa<br />

beim Irak krieg oder in der Wirtschaftsberichterstattung,<br />

als viertes Standbein der Demokratie<br />

weitgehend versagt. Darf man auf das Internet<br />

hoffen? Jedenfalls hat Assange bereits neue<br />

Enthüllungen angekündigt, diesmal über den<br />

US­ Finanzsektor, ein «Ökotop der Korruption».<br />

«Hass auf die Demokratie»<br />

Die Enthüllungen gefährdeten nicht bloss Karrieren,<br />

sondern Menschenleben, behauptet<br />

Aussenministerin Hillary Clinton immer wieder.<br />

Die nationale Sicherheit sei in Gefahr. Daniel<br />

Ellsberg, der vor vierzig Jahren geheime<br />

Pentagon­Papiere über das Verhältnis der USA<br />

zu Vietnam kopierte und in Umlauf brachte,<br />

kennt diese Argumentation: «Das behaupteten<br />

sie auch bei den Pentagon­Papieren – zu Unrecht,<br />

wie sich später herausstellte.»<br />

Wer sagt denn, dass Diplomatie absolut<br />

geheim sein muss? Was spricht gegen mehr<br />

Offenheit, mehr Demokratie auch in der US­<br />

Aussenpolitik? Gemäss Noam Chomsky sind es<br />

die Ziele und Methoden dieser Aussenpolitik<br />

selber, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen.<br />

Die neuesten Wikileaks­Dokumente, sagt<br />

er, «zeigen den tiefen Hass der politischen Führung<br />

auf die Demokratie».<br />

Hat Julian Assange Blut an den Händen? Die nationalistische Rechte der USA will den Wikileaks-Gründer auch <strong>mit</strong> «aussergerichtlichen Mitteln» zu vernichten. foto: Martial trezzini, Keystone<br />

depeSchen aUS der türkei<br />

Der traum vom<br />

Energiedrehkreuz<br />

Die von Wikileaks öffentlich gemachten Dokumente belegen:<br />

Die US­Diplomatie verfolgt die politischen Entwicklungen in der<br />

Türkei so intensiv wie nirgends sonst auf der Welt. Das zeigt<br />

die strategische Schlüsselstellung des Landes.<br />

Von DIEtEr SautEr, IStanBuL<br />

Endlich lobt mal einer Wikileaks: Cengiz Candar,<br />

Experte für türkische Aussenpolitik, hält<br />

alle Komplotttheorien über Wikileaks für absurd.<br />

So kursieren in der Türkei Gerüchte, «die<br />

Israelis» oder gar «die Amerikaner» selber hätten<br />

die vertraulichen Dokumente des US­Aussenministeriums<br />

Wikileaks zugespielt, um die<br />

Türkei zu destabilisieren. Candar ist jedoch der<br />

Meinung, die Folgen der Veröffentlichungen<br />

seien für Ankara im Grunde positiv. Denn fast<br />

alle Akten würden die wachsende globale Bedeutung<br />

des Landes belegen.<br />

Zankapfel Iran<br />

Tatsächlich wurden aus keiner anderen US­<br />

Botschaft der Welt mehr Meldungen nach<br />

Washington gekabelt als aus jener in Ankara.<br />

Fast 8000 Depeschen sind in den letzten Jahren<br />

über<strong>mit</strong>telt worden. Die bisher veröffentlichten<br />

Berichte zeigen, wie viele kontroverse Themen<br />

es <strong>mit</strong>tlerweile zwischen Washington und Ankara<br />

gibt.<br />

Grosse Interessengegensätze etwa gibt es<br />

im Umgang <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Iran: Während die USA die<br />

islamische Republik immer weiter zu isolieren<br />

versuchen, ist die türkische Regierung – nach<br />

US­amerikanischer Lesart – daran, ihre Beziehungen<br />

zum Iran immer weiter auszubauen.<br />

Selbst ihre diplomatischen Kontakte zur palästinensischen<br />

Hamas und zur libanesischen Hisbollah<br />

würden vor allem diesem Zweck dienen.<br />

Allerdings registrierten die US­DiplomatInnen<br />

in Ankara auch korrekt, dass sich<br />

die Türkei vor einer atomaren Bewaffnung<br />

des Iran fürchtet. Erstens gerate da<strong>mit</strong> der türkische<br />

Machtanspruch in der Region ins Wanken.<br />

Und zweitens könne das zu einem atomaren<br />

Rüstungswettlauf im Nahen Osten führen.<br />

Der ägyptische Staatspräsident Hosni Mubarak<br />

habe bereits offen ein Programm zum Bau einer<br />

Atombombe angeregt.<br />

Die noch grössere Gefahr sieht die Regierung<br />

von Tayyip Erdogan jedoch in einem<br />

Militärschlag Israels oder der USA gegen den<br />

Iran. Die wirtschaftlichen Folgen wären für<br />

die Türkei gravierend. Der Iran ist einer ihrer<br />

wichtigsten Handelspartner. Ausser<strong>dem</strong> ist die<br />

islamische Republik als Energielieferantin unverzichtbar,<br />

wenn das Land nicht zu hundert<br />

Prozent von russischem Gas abhängig werden<br />

will. Dazu passt die Meldung der regierungsnahen<br />

Zeitung «Zaman» dieser Tage, wonach<br />

die türkische Firma Som Petrol im Juli <strong>mit</strong> <strong>dem</strong><br />

Iran den Bau einer neuen Gaspipeline vereinbart<br />

hat.<br />

Enttäuschung <strong>mit</strong> Aserbaidschan<br />

Die Wikileaks­Enthüllungen machen deutlich,<br />

dass die türkische Diplomatie auf vielen Hochzeiten<br />

tanzt: So will die Regierung gleichzeitig<br />

<strong>dem</strong> Iran, den USA und den arabischen Staaten<br />

die Hände schütteln, in Palästina gute Beziehungen<br />

zu den <strong>mit</strong>einander verfeindeten Organisationen<br />

Hamas und Fatah unterhalten und<br />

sich auf <strong>dem</strong> spannungsgeladenen Kaukasus<br />

zu<strong>dem</strong> <strong>mit</strong> Russland, Armenien, Aserbaidschan<br />

und Georgien gut stellen. Gerade bei letzteren<br />

Bemühungen stellt die US­Diplomatie fest, dass<br />

die Türkei einen herben Rückschlag erlitten hat.<br />

So orientiere sich der aserbaidschanische<br />

Präsident Ilham Alijew mehr nach Moskau<br />

denn nach Ankara oder <strong>dem</strong> Westen, heisst es.<br />

An einem Anschluss an die geplante EU­Pipeline<br />

Nabucco habe er kein grosses Interesse. Die<br />

Röhre soll einst quer durch die Türkei führen<br />

und Gas aus Zentralasien nach Europa schaffen,<br />

ohne dass dabei russisches Territorium tangiert<br />

würde.<br />

«Ein Volk, zwei Staaten» hatte man bisher<br />

in Ankara <strong>mit</strong> Blick auf die Türkei und Aser­<br />

baidschan gesagt. In beiden Ländern lebe das<br />

Turkvolk. Die Aseris seien im Grunde Türk­<br />

Innen. Doch jetzt scheint die Freundschaft des<br />

türkisch­stämmigen Nachbarn Aserbaidschan<br />

nicht mehr sicher. Die Nabucco­Pipeline sollte<br />

eines der wichtigsten türkisch­aserbaidschanischen<br />

Gemeinschaftsprojekte sein und der<br />

Türkei zum Status eines Energiedrehkreuzes<br />

verhelfen. Die Wikileaks­Enthüllungen machen<br />

deutlich, dass sich hier türkische Träume<br />

in Luft auflösen.<br />

Taktische Atomwaffen<br />

Die US­Diplomatie bilanziert: Seit März 2003,<br />

seit das türkische Parlament beschloss, den<br />

US­amerikanischen Truppen den Zugang über<br />

türkisches Territorium in den Irak zu verwehren,<br />

erlaube sich Ankara zunehmend, aus eigenen<br />

Interessen eigene Ansichten zu aussenpolitischen<br />

Fragen zu vertreten. «Kann sich die<br />

USA da<strong>mit</strong> abfinden?», fragt Mitte November<br />

einer der Analysten des parteiunabhängigen<br />

German Marshall Fund in den USA. Immerhin<br />

bestätigen alle Berichte nach Washington, dass<br />

die derzeitige Regierung in Ankara pragmatisch<br />

genug sei, um eine nachhaltige Störung<br />

in ihrem Verhältnis zu den USA oder innerhalb<br />

der Nato zu vermeiden.<br />

Das wird sich nicht ändern. Denn durch<br />

die Wikileaks­Veröffentlichungen ist jetzt auch<br />

bestätigt, dass die USA taktische Atomwaffen<br />

am Bosporus lagern.<br />

Washington beruhigt sich ausser<strong>dem</strong><br />

da<strong>mit</strong>, dass die zunehmende Selbstständigkeit<br />

der Türkei im Nahen Osten und in Zentralasien<br />

auch vorteilhaft sein kann. Immerhin hatte die<br />

türkische Diplomatie wesentlichen Anteil daran,<br />

dass Anfang Woche in Genf über das iranische<br />

Atomprogramm verhandelt wurde.

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