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16 Thema<br />
WOZ Nr. 49 9. Dezember 2010<br />
Preisigs gezwungen, Ausschau zu halten. Sie fanden in Samedan<br />
eine Dreieinhalbzimmerwohnung, siebzig Quadratmeter,<br />
vierzig Jahre alte Infrastruktur, 2000 Franken inklusive – und<br />
machen noch den Hauswart. Viereinhalb Jahre leben sie inzwischen<br />
dort, aber auch dieses Kapitel ist <strong>dem</strong>nächst abgeschlossen.<br />
Die Besitzerin hat das Haus verkauft. Jetzt suchen<br />
sie wieder und haben eben erst eine Absage bekommen. Die<br />
Vermieterin einer Sechszimmerwohnung möchte lieber keine<br />
Kinder im Haus.<br />
Der Fluch des schnellen Geldes<br />
In diesem Tal sind Mutter und Vater zu Erwerbsarbeit gezwungen,<br />
wenn sie ihren Kindern eine halbwegs anständige<br />
Wohnung bieten möchten. Ein Lohn geht für die Miete drauf.<br />
Für eine moderne Vierzimmerwohnung überweist man nahezu<br />
3000 Franken Miete. Wer eine solche Wohnung kaufen<br />
will, nimmt hohe Belastungen in Kauf. Beispielsweise in Bever,<br />
<strong>dem</strong> kleinen Dorf am Fusse des Albulas, bis zu 1,5 Millionen<br />
Franken, sagt ein Einheimischer. In St. Moritz kostet<br />
der Quadratmeter Wohnfläche an schönen Lagen inzwischen<br />
35 000 Franken.<br />
In der Weite des Hochtals wird es für die Ansässigen<br />
immer enger. Der wirtschaftliche Segen ist zugleich Fluch.<br />
Schuld ist der überbordende Zweitwohnungsbau, der das<br />
ökonomische Gleichgewicht aus <strong>dem</strong> Lot bringt und das soziale<br />
Gefüge schwächt: Nur etwa vierzig Prozent der Wohnungen<br />
sind das ganze Jahr bewohnt. Wer den Preisdruck<br />
nicht mehr aushält, wandert ganz ab oder zieht ins Unterengadin.<br />
Und pendelt zur Arbeit ins Oberengadin. Christoph<br />
Wiesler hat diesen Weg gewählt. Der gebürtige Stadtbasler<br />
hat beinahe zwanzig Jahre in St. Moritz gelebt. Ihm wurde in<br />
dieser Zeit zweimal die Wohnung gekündigt – einmal wegen<br />
Eigenbedarfs, das andere Mal, weil die Wohnung verkauft<br />
wurde. Trotz<strong>dem</strong> hat <strong>dem</strong> Städter das urbane St. Moritz immer<br />
gefallen. Wiesler, der Germanistik und Italianistik studierte<br />
und ein Jahr in Italien verbrachte, schätzt die Nähe zu<br />
Italien. Überhaupt fühlt sich der Basler im Grenzgebiet wohl.<br />
Und doch ist der Deutschlehrer an der Kaufmännischen Schule<br />
in Samedan jetzt ins Unterengadin gezogen. Seit Mai lebt<br />
er in Lavin. 200 EinwohnerInnen, Abwanderungsprobleme,<br />
überaltert. Die Gemeinde wirbt <strong>mit</strong> günstigem Bauland um<br />
ZuzügerInnen.<br />
Christoph Wiesler hatte zunächst zusammen <strong>mit</strong> seiner<br />
Partnerin im Oberengadin eine kleine Eigentumswohnung<br />
gesucht – doch 800 000 bis eine Million Franken sind selbst<br />
für das Budget gut entlöhnter Fachkräfte zu viel. In Lavin lebt<br />
das Paar jetzt für den Preis einer kleinen Oberengadiner Eigentumswohnung<br />
in einem Fertighaus. Christoph Wiesler<br />
pendelt im Winter <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Zug – es sind vierzig Minuten von<br />
Haustür zu Haustür. «Die öffentlichen Verbindungen sind gut,<br />
bloss am späten Abend nicht.» Kinobesuch geht nur <strong>mit</strong> <strong>dem</strong><br />
Auto. In Neu-Lavin, <strong>dem</strong> Quartier der Zugezogenen, fühlt sich<br />
der Lehrer wohl. Auch andere angrenzende Regionen spüren<br />
den Zuwanderungstrend.<br />
Prallvolle Gemeindekassen, tiefe Steuern<br />
Dabei liesse sich <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Bau von Erstwohnungen auch im<br />
Oberengadin Geld verdienen. Traummargen wie im Zweitwohnungsbau<br />
liegen allerdings nicht drin. Daher giert die<br />
Bau- und Immobilienbranche nach mehr Ferienwohnungen.<br />
Die Gemeinde S-Chanf, an der Grenze zum Unterengadin gelegen<br />
und bekannt wegen der Berlusconi-Schwiegermutter,<br />
die hier ein Haus besitzt, bot Bauunternehmern Boden an. Die<br />
Auflage: Wohnungen für Einheimische. Keinen der Unternehmer<br />
lockte es hinter <strong>dem</strong> Ofen hervor, schliesslich realisierte<br />
es ein S-Chanfer Privatmann. Alle Wohnungen seines Mehrfamilienhauses<br />
sind vermietet. Auch im Oberengadin gibt es<br />
in bescheidenem Umfang Genossenschaftsbauten <strong>mit</strong> günsti<br />
gen Wohnungen, manche Gemeinden schaffen spezielle<br />
Bauzonen für Einheimische <strong>mit</strong> bezahlbaren Bodenpreisen<br />
und erlassen Vorschriften zur Einschränkung des Zweitwohnungsbaus.<br />
Ende November haben die SilserInnen an der Gemeindeversammlung<br />
einer 50:50-Vorschrift für Neubauten<br />
zugestimmt: Die Hälfte des Wohnraums muss also von Einheimischen<br />
genutzt werden. Aber das sind bloss Tropfen auf<br />
den heissen Stein.<br />
Fett macht immer noch das Geschäft <strong>mit</strong> den Zweitwohnungen.<br />
Immobilien im Oberengadin sind eine sichere Bank,<br />
ihr Wert steigt ständig. Wer Schwarz- oder Graugeld anlegen<br />
möchte, ist hier gut bedient. Die Nachfrage ist auch aus diesem<br />
Grund hoch. Und sie könnte durch das noch von Bundesrat<br />
Merz eingefädelte Steuerabkommen <strong>mit</strong> Deutschland<br />
nochmals befeuert werden. Ein Teil des durch das Abkommen<br />
reingewaschenen deutschen Geldes könnte sich hier in wertvollen<br />
Beton verwandeln. Auch die Aufhebung des Eigenmietwertes<br />
würde die Nachfrage zusätzlich anheizen.<br />
In den meisten Gemeinden sind die 2009 in einem<br />
Kreisgesetz eingeführten Kontingente ohnehin schon auf<br />
Jahre hinaus vergeben. Im Oberengadin sind die Bau- und die<br />
Immobilienbranche doppelt so stark wie im schweizerischen<br />
Durchschnitt. Auch die Gemeinden profitieren vom schnellen<br />
Robert Obrist, Architekt: «Die Architekten hier sind politische Eunuchen,<br />
und die Hoteliers halten sich ganz aus der Politik heraus.»<br />
«Vermietern sind Hunde lieber als Kinder»: Die Juristin Franziska Preisig kämpft<br />
in einem Initiativko<strong>mit</strong>ee gegen die Auswüchse des Zweitwohnungsbaus.<br />
Geld. Anschlussgebühren, Handänderungs- und Grundstückgewinnsteuern<br />
spülen Millionen in die Kassen. St. Moritz, das<br />
wirtschaftliche Zentrum des Tals, weist ein Eigenkapital von<br />
deutlich über hundert Millionen Franken aus. Gerade hat das<br />
Stimmvolk den Bau eines 65 Millionen Franken teuren Hallenbades<br />
<strong>mit</strong> Sportzentrum beschlossen. Das vierzigjährige<br />
alte Bad des Architekten Robert Obrist fällt der Abrissbirne<br />
zum Opfer.<br />
Strassennetz, Abwasserreinigung – die ganze Infrastruktur<br />
ist auf die Spitzen im Sommer und im Winter ausgelegt<br />
– den Rest des Jahres verlieren sich die Menschen in den<br />
aufgeblasenen Agglomerationen um St. Moritz, Celerina, Samedan<br />
und Pontresina. Das schnelle Geld aus <strong>dem</strong> Zweitwohnungsbau<br />
hat Bauunternehmer, Treuhänderinnen, Handwerker,<br />
Haus- und Bodenbesitzerinnen reich gemacht, es zieht<br />
Banken, Versicherungen und Immobiliendealer an, es schafft<br />
Arbeitsplätze. Und es hält die Steuern tief. Das ist die wohlige<br />
Seite dieser Überdosis. Aber das schnelle Geld macht abhängig.<br />
Sind Zweitwohnungen einmal gebaut, bringen sie der<br />
Region kaum noch Wertschöpfung, die hohen Infrastrukturkosten<br />
bleiben. Der Gedanke an Entzug macht Angst: Sollte<br />
der Boom einbrechen – wo<strong>mit</strong> dann die überdimensionierte<br />
Infrastruktur unterhalten und das subtropische Steuerklima<br />
pflegen?<br />
Gesundschrumpfen!<br />
Robert Obrist ist ein kantiger Mann, er spricht eine klare<br />
Sprache. Und er steckt voller Widersprüche, die seine Unabhängigkeit<br />
markieren: Der Architekt ist GSoA-Mitglied und<br />
baute Militäranlagen, er ist Atheist und baute eine Kirche,<br />
er ist gegen den wild wuchernden Zweitwohnungsbau und<br />
verdiente sein Geld einst auch <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Bau von Zweitwohnungen.<br />
Er weiss, dass die Geschichte nicht so einfach ist, wie<br />
er sie im Gespräch holzschnittartig herausarbeitet. «Viel Geld,<br />
wenig Geist», sagt er über St. Moritz. Oder: «Die Architekten<br />
hier sind politische Eunuchen, und die Hoteliers halten sich<br />
ganz aus der Politik heraus.» Er weiss auch, dass Gesetze keine<br />
Wunder<strong>mit</strong>tel sind. «Jeder Hag hat ein Loch, da<strong>mit</strong> müssen<br />
wir leben.» Ein politischer Eunuch ist Obrist gewiss nicht.<br />
Bis vor einem halben Jahr sass er im Kreisrat, <strong>dem</strong> regionalen<br />
Parlament, als Vertreter der Freien Liste. Er hat viele Regional-<br />
und Ortsplanungen gemacht, sein Büro hat manchen Architekturwettbewerb<br />
gewonnen. Er versteht etwas vom Geschäft.<br />
Den Aargauer Obrist verschlug es 1963 ins Oberengadin.<br />
Damals kam auch ein Unterländer noch relativ einfach<br />
ins Geschäft, zeitweise zählte sein Büro nahezu dreissig Angestellte,<br />
jetzt ist der Unruheständler ein gemachter Mann.<br />
Vor vierzig Jahren hat er das Terrassenhaus in Sichtbeton<br />
gebaut, in <strong>dem</strong> wir das Gespräch führen – für 2,5 Millionen<br />
Franken. Wohnungen und sein auf zwei Etagen angelegtes<br />
Architekturbüro sind darin untergebracht. Er könnte die Liegenschaft<br />
teuer verkaufen. Aber er vermietet die Wohnungen<br />
an normale Menschen zu bezahlbaren Mieten – eine Coiffeuse<br />
wohnt hier, aber auch ein Architekt. Obrist sitzt, umgeben von<br />
afrikanischen Skulpturen, moderner Malerei und Büchern in<br />
seinem grosszügigen Büro <strong>mit</strong> Blick auf den Lej da San Murezzan.<br />
Und sagt: «Das Baugewerbe im Engadin muss gesundschrumpfen!<br />
Und es wird auch danach ein gutes Auskommen<br />
haben.» Hotelzonen müssten ausgeschieden werden, um die<br />
Hotellerie und eine nachhaltige Wertschöpfung zu stärken<br />
und da<strong>mit</strong> die Umwandlung von noch mehr Hotelgebäuden in<br />
Zweitwohnsitze zu unterbinden. Obrist fordert für das Oberen<br />
ga din eine regionale Fachkommission für Planungs- und<br />
Baufragen, wie sie grosse Gemeinden und Städte kennen. Das<br />
würde Fehlentwicklungen entgegenwirken. Und noch etwas:<br />
Elf Gemeinden, elf zum Teil enorm differierende Baugesetze –<br />
Megaprojekte<br />
Es wird wieder geklotzt<br />
In den Alpen denken und planen Touristiker und Investorinnen<br />
wieder überdimensional. In den Köpfen gibt es viele<br />
Vorhaben, die meisten bleiben auch dort stecken. Der Ausbau<br />
des verschlafenen Alpendorfes Andermatt in eine Tourismusstadt<br />
ist derzeit das grösste und wohl auch solideste Megaprojekt.<br />
Im Urserental ist der Bau und Verkauf von Ferienwohnungen<br />
und Villen bereits angelaufen. Die Investitionssumme<br />
beläuft sich auf 1,8 Milliarden Franken, die Wertschöpfung<br />
soll dereinst 220 Millionen Franken pro Jahr betragen,<br />
die Rede ist von 1800 neuen Arbeitsplätzen in Andermatt, und<br />
im Vollbetrieb sollen im Kanton Uri durch indirekte Effekte<br />
sogar 3700 Stellen entstehen. Im Gegensatz zu anderen Investoren<br />
wählte der ägyptische Milliardär Samih Sawiris einen<br />
partizipativen Ansatz und versuchte die Bevölkerung direkt<br />
zu überzeugen. Ob das Megaprojekt funktioniert und wie es<br />
das soziale Gefüge im Bergtal verändert, ist nicht absehbar.<br />
Im Kanton Wallis sind mehr als ein Dutzend Grossprojekte<br />
geplant. Das bekannteste ist ein Resort im Dorf Mollens.<br />
auch hier fordert der Architekt eine Vereinheitlichung. Die<br />
Beschneidung der Gemeindeautonomie ist ein heikles Thema,<br />
hier oben ist sie eine heilige Kuh.<br />
Ein altersradikaler Bergmarxist?<br />
Aber vielleicht sperren die OberengadinerInnen ihre heilige<br />
Kuh doch irgendwann auf eine eingezäunte Wiese, ehe sie<br />
zu viel Schaden anrichtet. Denn der überhitzte Immobilienmarkt<br />
setzt die lokale Bevölkerung unter Stress. Die Bodenpreise<br />
sind extraterrestrisch, die Mieten explodieren, die<br />
Lebenskosten steigen – Verhältnisse wie in Zürich oder Genf,<br />
aber <strong>mit</strong> Bündner Löhnen. Selbst der St. Moritzer Kurdirektor<br />
Hanspeter Danuser, gewiss kein Umstürzler, fürchtet soziale<br />
Konflikte. Nicht gut fürs Image. Danuser schwebt etwas vor,<br />
was im kanadischen Whistler Mountain längst funktioniert:<br />
Dort dürfen Zweitwohnungen im Sommer und Winter jeweils<br />
einen Monat von den Besitzern genutzt werden, den Rest der<br />
Zeit müssen sie vermietet werden. Danuser schimpften im Tal<br />
deswegen viele einen «altersradikalen Bergmarxisten». Lange<br />
davor, nämlich 2005, war den OberengadinerInnen das<br />
ers te Mal richtig der Kragen geplatzt. Stillschweigend, nämlich<br />
an der Urne. Die BerglerInnen stimmten gegen den heftigen<br />
Widerstand der bürgerlichen Parteien von FDP, BDP und<br />
CVP und aller Gemeindepräsidenten <strong>mit</strong> über siebzig Prozent<br />
einer regionalen Kontingentierungsinitiative zu. Es war eine<br />
schallende Ohrfeige für die machtverwöhnten Anwälte, Ingenieure<br />
und Bauunternehmer, die während der Hochjagd auf<br />
den Berghütten Päckchen schnüren und Absprachen treffen.<br />
Jagdhüttenpolitik.<br />
Vorangetrieben hatte die Initiative der SP-Politiker und<br />
Ende November abgewählte Gemeindepräsident von S-Chanf,<br />
Romedi Arquint. 2007 doppelten die StimmbürgerInnen<br />
nach: Sie wählten bei den ersten Wahlen in das neu konzipierte<br />
Regionalparlament alle KandidatInnen der Glista Libra.<br />
«Wir hätten auch Tote oder Kinder auf die Liste setzen können,<br />
sie wären gewählt worden», sagt Robert Obrist. Für eine<br />
Mehrheit reichte es dennoch nicht, weil alle Gemeindepräsidenten<br />
von Amtes wegen im 33-köpfigen Parlament sitzen. So<br />
haben die Bürgerlichen doch noch das Sagen.<br />
Unterstützt wird der Kampf gegen die Auswüchse des<br />
Zweitwohnungsbaus auch vom Forum Engadin, einer politisch<br />
neutralen Vereinigung, der auch viele FerienhausbesitzerInnen<br />
angehören, darunter Edgar Oehler oder die Ringiers.<br />
Freilich nehmen die meisten Oberengadiner PolitikerInnen<br />
<strong>dem</strong> Forum dieses Engagement übel – und haben den Austritt<br />
gegeben.<br />
Das Loch im Hag<br />
Das Kontingentierungsgesetz trat 2009 in Kraft – ein Wermutstropfen<br />
vergällt allerdings die Freude. Das Establishment<br />
hat doch noch eine dehnbare Ausnahmeregelung durchgedrückt.<br />
Der Artikel 7, Absatz 2, erlaubt den Gemeinden, «im<br />
Rahmen von projektbezogenen Nutzungsplanungen im überwiegenden<br />
öffentlichen und volkswirtschaftlichen Interesse<br />
liegende Bauvorhaben teilweise oder ganz von der Kontingentierung<br />
zu befreien». In Samedan wollte die Gemeinde dieses<br />
Schlupfloch bereits nutzen und 3500 Quadratmeter Zweitwohnungsfläche<br />
an zwei laufende Hotelprojekte kontingentfrei<br />
bewilligen – Druck aus der Bevölkerung und der Glista<br />
Libra verhinderten es.<br />
Jetzt dürfen im Oberengadin bloss noch hundert Ferienwohnungen<br />
pro Jahr gebaut werden. Zuvor stampften die<br />
Baugeschäfte jährlich vierhundert aus <strong>dem</strong> Boden. Es ist ein<br />
erster Schritt, nicht die Lösung. Kurzfristig hat die Verknappung<br />
des Angebots die Preise nochmals hochgetrieben und<br />
Als Investorin tritt dort die Aminona Luxury Resort & Village<br />
SA auf, eine Tochterfirma des russischen Baukonzerns Miramax.<br />
Geplant sind 160 Luxusappartements, 350 Hotelzimmer,<br />
50 Chalets und eine 12 000 Quadratmeter grosse Geschäftszone.<br />
Die Gemeinde hat für die erste Bauetappe grünes Licht<br />
gegeben. Anfang November haben der WWF und die Stiftung<br />
Landschaftsschutz Schweiz gegen die Baubewilligung Beschwerde<br />
eingereicht. Sie befürchten ein Fiasko für Natur und<br />
Landschaft.<br />
Megaprojekte sind bei der Bergbevölkerung ohnehin<br />
nicht besonders beliebt. Die meisten stossen auf Ablehnung,<br />
bleiben im Planungsstadium stecken und werden nie realisiert.<br />
Die Grossprojekte lenken zu<strong>dem</strong> vom grösseren Problem<br />
ab, nämlich <strong>dem</strong> Bau von Zweitwohnungen und den<br />
kalten Betten. Dass es auch anders geht, zeigt ein Projekt in<br />
Flims: Wer im Rockresort eine Ferienwohnung kauft, muss<br />
sich verpflichten, diese weiterzuvermieten. So bleiben die Betten<br />
meistens warm. fa<br />
Nicola Caduff, Jungsozialist: «St. Moritz hat seine Seele verkauft. Wir müssen<br />
den Spekulanten Wohnraum entziehen.»<br />
«Wohneigentum im Oberengadin ist für mich unerschwinglich»: Der Lehrer<br />
Christoph Wiesler hat sich fürs Pendeln entschieden.<br />
Thema 17<br />
WOZ Nr. 49 9. Dezember 2010<br />
erhöht den Druck auf die sogenannten altrechtlichen Wohngebäude,<br />
also all jene Objekte, die vor den nutzungsrechtlichen<br />
Einschränkungen entstanden sind, und das ist der<br />
Grossteil der Wohnungen. Die Glista Libra sammelt daher<br />
bereits für eine neue Initiative Unterschriften. Der Vorstoss<br />
verlangt, es solle sichergestellt werden, dass nach erheblichen<br />
Umbauten und Sanierungen die Hälfte der Wohnfläche als<br />
Erstwohnungen dient. Spätestens im nächsten Februar sollen<br />
die vierhundert Unterschriften zusammen sein. Das wird kein<br />
Problem. Aber anders als bei der ersten Initiative, die neue Ferienwohnungen<br />
betraf, sehen nun einheimische Haus be sitzer<br />
In nen ihre Eigentumsfreiheit in Gefahr. Das Establishment<br />
inszeniert bereits erste Störmanöver. Zunächst behauptete<br />
das Kreisamt, die Initiative müsse die Bedingungen des kantonalen<br />
Initiativrechts erfüllen. Der Gemeindevorstand von<br />
Samedan behauptete, sollte die Initiative zustande kommen,<br />
habe das Regionalparlament darüber zu bestimmen, nicht<br />
das Volk. Denn dort stellt die Baulobby die Mehrheit. Es sind<br />
Behauptungen wider besseres Wissen. Der politische Prozess<br />
ist erst angelaufen, die Auseinandersetzung wird hart. Die<br />
Baulobby wird ihr ganzes Gewicht in die Waagschale werfen,<br />
um ihre Goldgrube zu schützen. Würde die Initiative angenommen,<br />
wäre das keine Ohrfeige für die Mächtigen, es wäre<br />
ein Kinnhaken – und ein Sieg der Vernunft.<br />
Das Ende der Hotellerie<br />
Die Wut unter Einheimischen gegen ihre Vertreibung aus den<br />
Dorfzentren spürt auch Nicola Caduff. Selbst langjährige Feriengäste<br />
fühlten sich unbehaglich. «St. Moritz hat seine Seele<br />
verkauft», sagt der 23-Jährige. Er hat eine KV-Lehre in einem<br />
Tourismusbüro absolviert und studiert derzeit in Chur an der<br />
Hochschule für Wirtschaft und Technik. Nach <strong>dem</strong> Studium<br />
könnte er als Manager ein Hotel führen, wenn es denn die Hotellerie<br />
noch lange gibt. Sie hat St. Moritz gross gemacht, jetzt<br />
droht der Zweitwohnungsirrsinn ihre Fundamente zu zerstören.<br />
Hotels wechseln im mondänen Kurort auch schon mal für<br />
fünfzig bis sechzig Millionen Franken die Hand und beherbergen<br />
dann Zweitwohnungen. Wer kann da widerstehen?<br />
Caduff ist ein Kind von St. Moritz. Er kennt jeden Winkel<br />
des Dorfes. Allein im Umfeld des Schulhausplatzes finden<br />
sich zwei abgehalfterte Hotels, mächtige Gebäude, die die<br />
Strassen in Schatten tauchen. Da ist das «Albana», wo Caduff<br />
als Bub seine Manieren an einem Benimmkurs schliff. Jetzt<br />
hat sich im Parterre die Credit Suisse eingenistet, darüber<br />
liegen Eigentumswohnungen. Angrenzend das «Parkhaus»,<br />
ebenfalls ein mächtiger Bau. Ein schmiedeeisernes Tor schützt<br />
den Eingang zu den Eigentumswohnungen, die Adresse: «The<br />
Murezzan 4», dann eine Boutique, daneben eine Galerie. Eine<br />
neue Erscheinung sind auch die Immobilienangebote hinter<br />
Glasfenstern. «Dort unten war ein Platz, auf <strong>dem</strong> sich die Jungen<br />
noch vor wenigen Jahren vor <strong>dem</strong> Ausgang trafen», sagt<br />
Caduff. Heute ist er zugebaut – Edelboutiquen hinter Glasfronten.<br />
Und die Hotelbars, in denen sich die Einheimischen<br />
treffen, sind inzwischen rar. Die Führung durch das Dorfzentrum<br />
ist ein Gang durch einen ausgestorbenen Ort. Bloss<br />
Handwerker und portugiesische Strassenarbeiter, die Schnee<br />
wegräumen, zwei junge Deutsche an der <strong>Bus</strong>haltestelle, einige<br />
ältere Frauen – viel mehr Menschen sind da nicht. Und<br />
dann führt Caduff einige Meter den Hang hinunter und zeigt<br />
hoch zum ehemaligen Hotel Belveder, der Prachtbau heisst<br />
heute Residenz Belveder – bis auf den letzten Quadratmeter<br />
Eigentumswohnungen.<br />
Der wilde Geldstrom spült die Einheimischen gewissermassen<br />
aus <strong>dem</strong> Ort, zerstört die alte Dorfkultur und verwandelt<br />
St. Moritz bald für immer in eine gereinigte Sonderzone<br />
der Superreichen, die beiläufig 6500 Franken für ein Weihnachtsessen<br />
ausgeben. Das Gebäude, in <strong>dem</strong> sich das Kino<br />
befindet – eben verkauft. Auch dort werden im Parterre wohl<br />
bald Boutiquen einziehen und darüber Zweitwohnungen.<br />
Rendite um jeden Preis.<br />
Caduff ist Jungsozialist, sitzt im Regionalparlament<br />
und denkt an die Zukunft. Ihm reichen defensive Übungen<br />
wie die Einschränkungen des Zweitwohnungsbaus nicht.<br />
«Wir brauchen eine Gesamtsicht, wir müssen wissen, was wir<br />
<strong>mit</strong> diesem Tal wollen, wir müssen den Genossenschaftsbau<br />
fördern und den Spekulanten Wohnraum entziehen.» Er will<br />
sich nicht widerstandslos die Heimat entreissen lassen. Aber<br />
so kämpferisch Caduff jetzt tönt, streift ihn dann doch der<br />
Realitätssinn des Berglers: «Ich liebe das Oberengadin, ich<br />
bleibe, bis ich mein Studium beendet habe, und ich bleibe länger,<br />
wenn mir das Tal eine Perspektive bietet. Sonst muss halt<br />
auch ich <strong>mit</strong> Wehmut <strong>dem</strong> Engadin den Rücken kehren.»<br />
Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds<br />
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