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Besser mit dem Bus

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Wer arm ist, soll unten bleiben: Protest gegen die Erhöhung der Studiengebühren<br />

im Londoner Regierungsviertel Whitehall am 24. November. foto: Wayne Starr, KeyStone<br />

England<br />

Der Aufstand<br />

der Teenager<br />

Drei Aktionstage in drei Wochen und zwei Dutzend<br />

Besetzungen: Schon lange nicht mehr hat es eine<br />

so starke englische Schüler- und Studentinnenbewegung<br />

gegeben wie die gegen die Gebührenerhöhung.<br />

Und selten zuvor waren ihre Ziele so breit gefächert.<br />

Von PeTer STäuber, LonDon<br />

Das hätte man der Facebook-Generation nicht<br />

zugetraut. Weder eisige Kälte und Schnee<br />

noch die Aussicht, erneut von der Polizei eingekesselt<br />

und stundenlang festgehalten zu<br />

werden, konnten die StudentInnen abschrecken.<br />

Zu Tausenden zogen sie letzte Woche<br />

durch London, Manchester, Birmingham und<br />

andere Städte – es war die dritte landesweite<br />

Kundgebung innerhalb von drei Wochen. Die<br />

Pläne der konservativ-liberal<strong>dem</strong>okratischen<br />

Regierung, die Studiengebühren in England<br />

massiv zu erhöhen, haben die grösste Student-<br />

Innenbewegung seit Jahrzehnten entfacht.<br />

«Wir nutzen die elektronischen Medien zur<br />

Organisation der Proteste», erklärte Henry<br />

Parkyn-S<strong>mit</strong>h, der am Dienstag vergangener<br />

Woche auf <strong>dem</strong> Londoner Trafalgar Square<br />

<strong>dem</strong>onstrierte. «Das hat heute gut funktioniert.<br />

Bei der Demo letzte Woche konnte uns<br />

die Polizei einkesseln, aber heute haben wir<br />

mindestens fünf Absperrungen durchbrechen<br />

können. Das zeigt doch, wie stark unsere<br />

Bewegung ist.» Der Achtzehnjährige hat eben<br />

die Mittelschule abgeschlossen und will in<br />

einem Jahr <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Studium beginnen. Ein<br />

grosser Teil der DemonstrantInnen ist noch<br />

ein Stück jünger als er: SchülerInnen im Alter<br />

von fünfzehn und sechzehn Jahren, denen die<br />

Aussicht auf langjährige Schulden Sorgen bereitet,<br />

sind zuvorderst <strong>mit</strong> dabei.<br />

Ihre Befürchtungen sind<br />

berechtigt. So kritisiert der universitäre<br />

Thinktank Million+ in<br />

einer kürzlich veröffentlichten<br />

Studie die Pläne der Regierung.<br />

Anders als in Schottland, wo<br />

die schottisch-nationale Regionalregierung<br />

Studiengebühren<br />

ablehnt, sollen die Gebühren an<br />

englischen Universitäten von<br />

derzeit rund 3300 Pfund – umgerechnet<br />

5100 Franken – auf bis<br />

zu 9000 Pfund pro Jahr steigen.<br />

Diese Massnahme habe eine abschreckende<br />

Wirkung auf StudienanwärterInnen aus ärmeren<br />

Verhältnissen, hielt Million+ fest. Eine<br />

Umfrage des Meinungsforschungsinstituts<br />

Ipsos Mori kam zum selben Ergebnis: Schon<br />

eine Erhöhung auf jährlich 7000 Pfund hätte<br />

zur Folge, dass zwei Drittel aller potenziellen<br />

BewerberInnen aus der ärmsten sozialen<br />

Schicht auf ein Studium verzichten würden.<br />

Da<strong>mit</strong> – so sagen die Protestierenden – würde<br />

höhere Bildung wieder zum Privileg der Reichen,<br />

wie es vor Jahrzehnten der Fall war.<br />

Vom Widerstand überrascht<br />

Die studentische<br />

Protestbewegung<br />

sucht den<br />

Schulterschluss<br />

<strong>mit</strong> anderen<br />

Gruppierungen.<br />

Dass die Gebührenerhöhung eine solch starke<br />

Reaktion hervorruft, hat viele PolitikerInnen<br />

verblüfft – nicht zuletzt die Liberal<strong>dem</strong>okrat-<br />

Innen, die während des Wahlkampfs noch<br />

versprochen hatten, eine Erhöhung abzulehnen.<br />

Doch nun wird zumindest ein Teil von<br />

ihnen <strong>dem</strong> Vorhaben zustimmen. Kein Wunder,<br />

richtet sich der Zorn der StudentInnen<br />

gegen die Liberal<strong>dem</strong>okratInnen im Kabinett,<br />

allen voran gegen den Parteivorsitzenden und<br />

Vizepremier Nick Clegg. Aber auch die Konservativen<br />

sind Ziel der Proteste, wie sich am<br />

ersten Aktionstag Mitte November zeigte, als<br />

Jugendliche die Tory-Parteizentrale stürmten.<br />

«Wir werden unsere Kampagne noch verschärfen»,<br />

verspricht Clare Solomon, Präsidentin<br />

der Studierendenvertretung der<br />

University of London, «wir werden vermehrt<br />

<strong>dem</strong>onstrieren und zu direkten Aktionen<br />

greifen.» In den letzten Wochen ist die 37-Jährige,<br />

die erst nach Jahren im Beruf ein Studium<br />

aufnahm, zur Anführerin des radikaleren<br />

Flügels der Protestbewegung aufgestiegen.<br />

«Wir haben die National Union of Students<br />

NUS [den Dachverband der Student Innen]<br />

links überholt», sagt Solomon, «jetzt bleibt<br />

ihr nichts übrig, als nachzuziehen.» So unterstützt<br />

die NUS seit ein paar Tagen alle Formen<br />

des friedlichen Protests – auch die Besetzungen<br />

von zwei Dutzend Universitäten im<br />

Land. Seit über zwei Wochen okkupieren Studierende<br />

in Newcastle, Leeds, London, Cambridge<br />

und anderen Orten ihre Hochschulen.<br />

Die BesetzerInnen geniessen dabei breite Unterstützung.<br />

Universitätsangestellte und DozentInnen<br />

bekunden ihre Sympathie und beteiligen<br />

sich zum Teil an dieser Form des Protests,<br />

denn parallel zur Gebührenerhöhung<br />

kürzt die Regierung die staatlichen Zuschüsse<br />

zu den Lehrbudgets um durchschnittlich<br />

achtzig Prozent. Renommierte Einrichtungen<br />

wie die London School of Economics, die Ende<br />

vergangener Woche besetzt wurde, oder die<br />

London School of Oriental and African Studies<br />

(SOAS) bekommen möglicherweise gar<br />

nichts mehr. Die Gebühren werden dort entsprechend<br />

stark angehoben.<br />

Die StudentInnenvereinigung der SOAS<br />

zählt zu den politisch aktivsten. Sie engagiert<br />

sich seit langem in der Umwelt- und der Antikriegsbewegung<br />

und lancierte 2007 eine<br />

Kampagne <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Ziel, eine angemessene<br />

International 9<br />

WOZ Nr. 49 9. Dezember 2010<br />

Bezahlung für das Putzpersonal durchzusetzen.<br />

Sie war genauso erfolgreich da<strong>mit</strong><br />

wie die Studierenden des University College<br />

London, die zu Beginn ihrer Besetzung einen<br />

höheren Mindestlohn für die schlecht<br />

bezahlten Hilfskräfte verlangten. Die Forderungen,<br />

die die SOAS-BesetzerInnen jetzt an<br />

die Universitätsleitung richten, zeigen, dass<br />

es den Studierenden um weit mehr geht als<br />

nur die Gebühren: «Wir sind gegen alle Ausgabenkürzungen<br />

im öffentlichen Dienst und<br />

bei den Sozialstaatseinrichtungen», heisst<br />

es in ihrer Stellungnahme. Stattdessen solle<br />

sich die Regierung gefälligst «<strong>mit</strong> Steuerhinterziehung<br />

und Bankerboni befassen».<br />

«Die Regierung darf sich fürchten»<br />

Da die Regierung die höheren Studiengebühren<br />

und die Demontage des Wohlfahrtsstaats<br />

<strong>mit</strong> der Notwendigkeit des Defizitabbaus<br />

begründet, suchen die StudentInnen<br />

den Schulterschluss <strong>mit</strong> anderen Gruppierungen.<br />

Denn nach einem zögerlichen Start<br />

kommt nun eine breite Widerstandsbewegung<br />

ins Rollen: Ende November fand die<br />

Gründungskonferenz der sogenannten Coalition<br />

of Resistance statt, die die diversen Kampagnen<br />

gegen Ausgabenkürzungen in allen<br />

Sektoren koordiniert. Initiiert<br />

hat die Koalition der grosse alte<br />

Mann der britischen Linken,<br />

der <strong>mit</strong>tlerweile 85 Jahre alte<br />

frühere Technologie-, Industrie-<br />

und Energieminister Tony Benn.<br />

Die Konferenz erhielt grossen<br />

Zuspruch: 1300 Gewerkschafts<strong>mit</strong>glieder<br />

aus allen Branchen,<br />

Aka<strong>dem</strong>iker und Schülerinnen,<br />

VertreterInnen der Rentnerverbände<br />

und Labour-Abgeordnete,<br />

AntikriegsaktivistInnen und<br />

Kulturschaffende trafen sich in<br />

London, um <strong>dem</strong> Widerstand gegen das Kürzungsprogramm<br />

einen ersten Schub zu verpassen.<br />

An einem Erfolg zweifeln weder die Konferenzteilnehmer<br />

noch die Studentinnen.<br />

Ihre bisher grösste Demonstration ist für diesen<br />

Donnerstag geplant – dann stimmen die<br />

Unterhausabgeordneten über die Studiengebühren<br />

ab. Die Coalition of Resistance erwartet,<br />

dass zahlreiche Gewerkschaften die SchülerInnen<br />

und Studierenden unterstützen. So<br />

haben Londoner StudentInnenvertretungen<br />

und die gewerkschaftlich organisierten Londoner<br />

U-Bahn-ArbeiterInnen eine Erklärung<br />

verfasst: Sie werden künftig gemeinsam zu<br />

den Protesten gegen Gebührenerhöhungen<br />

und den Stellenabbau in der Londoner Underground<br />

mobilisieren. «Die Regierung hat allen<br />

Grund, sich zu fürchten», hofft Henry Parkyn-S<strong>mit</strong>h.<br />

«In der Vergangenheit standen<br />

Studentenbewegungen oft am Anfang von<br />

grösseren gesellschaftlichen Umwälzungen.<br />

Das wird auch diesmal so sein.»<br />

Flashmobs in britanniEn<br />

Gegen Steuerbetrug<br />

Letzten Samstag waren sie wieder unterwegs:<br />

In mehreren Städten marschierten jeweils<br />

ein Dutzend AktivistInnen in 22 Filialen der<br />

Modekette Topshop. Sie verteilten Flugblätter,<br />

pappten sich <strong>mit</strong> Spezialkleber an Fenster<br />

und Türen fest oder zogen den Schaufensterpuppen<br />

«Steuerschwindler»-T-Shirts über.<br />

Topshop ist Teil der Arcadia-Handelsgruppe<br />

des Milliardärs und Regierungsberaters Philip<br />

Green, der den Konzern seiner Frau überschrieben<br />

hat. Und die hat ihren Wohnsitz in<br />

der Steueroase Monaco.<br />

Vor ein paar Wochen hatten die Flashmobs<br />

der Initiative UK Uncut, die sich <strong>dem</strong><br />

Kürzungsprogramm der Regierung und den<br />

von ihr akzeptierten Steuerschlupflöchern<br />

widersetzt, Vodafone-Shops besucht. Der<br />

Mobilfunkkonzern spart dank eines Deals<br />

<strong>mit</strong> den Finanzämtern umgerechnet 9,3<br />

Milliarden Franken an Steuergeldern. Insgesamt<br />

entgehen <strong>dem</strong> britischen Fiskus schätzungsweise<br />

jährlich 109 Milliarden Franken<br />

durch illegale Steuerhinterziehung und 39<br />

Milliarden durch legale Steuervermeidung<br />

wie die Verlagerung von Konzernzentralen.<br />

Vergangene Woche hat der US-Konzern Kraft<br />

bekannt gegeben, dass er den Sitz seiner britischen<br />

Tochtergesellschaft Cadbury’s aus<br />

Steuergründen in die Schweiz verlegt – und<br />

das <strong>mit</strong> Zustimmung einer Regierung, die vor<br />

allem die Armen für die Bankenrettung bluten<br />

lässt. Doch <strong>mit</strong>tlerweile spüren die Unternehmen<br />

den überaus populären Protest: Die<br />

UK-Uncut-Aktion hat Vodafones Image, so ergaben<br />

Umfragen, ziemlich lädiert. Pw<br />

www.ukuncut.org.uk

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